Homicide
gut einreden, dass es einen Gott und einen Himmel gibt.«
»Das Leichenschauhaus lässt dich an Gott glauben?«, fragt Nolan fassungslos.
»Na gut, an den Himmel vielleicht nicht, aber irgendeinen Ort, wo der Geist oder die Seele nach dem Tod hinwandert.«
»Es gibt keinen Himmel«, erklärt Nolan den anderen. »Man braucht sich ja nur da drüben umzusehen, dann weiß man, dass wir alle nur ein Stück Fleisch sind.«
»Nein«, entgegnet McLarney und schüttelt den Kopf. »Ich glaube, dass es einen Ort für uns gibt.«
»Und wieso?«, fragt Nolan.
»Weil, wenn die Leichen so daliegen, ist alles Leben aus ihnen verschwundenund man weiß, dass nichts dableibt. Sie sind völlig leer. Schon die Gesichter verraten einem, dass sie vollkommen leer sind …«
»Und?«
»Und irgendwo muss es dann doch sein, oder nicht? Es verschwindet doch nicht einfach. Sie müssen irgendwo anders hingehen.«
»Du meinst also, ihre Seelen fahren in den Himmel?«
»He!«, meint McLarney lachend, »warum eigentlich nicht?«
Und dann lacht auch Nolan und schüttelt den Kopf. So hat McLarney Gelegenheit davonzuschlendern, ohne dass seine bahnbrechenden theologischen Überlegungen zerpflückt wurden. Schließlich können nur die Lebenden für die Toten sprechen, und McLarney lebt, sie nicht. Allein kraft dieser einen unleugbaren Tatsache hat er das Recht, mit dem schwächsten Argument den Sieg davonzutragen.
Freitag, 19. August
Dave Brown bringt den Cavalier knapp einen Block vor dem Blaulicht zum Stehen, aber nahe genug, um die Szene insgesamt im Blick zu haben.
»Den übernehme ich«, sagt er.
»Du bist wirklich komplett bescheuert«, sagt Worden auf dem Beifahrersitz. »Warum fährst du nicht gleich ganz hin und schaust dir die Sache erst mal in Ruhe an?«
»He!, ich habe mich gerade entschieden.«
»Vielleicht möchtest du ja erst sehen, ob schon jemand verhaftet worden ist?«
»He!«, sagt Brown noch einmal. »Ich habe mich gerade entschieden.«
Worden schüttelt den Kopf. Wenn zwei Detectives im Auto auf dem Weg zu einem Tatort sind, dann verpflichtet sich einer der beiden, die Rolle des leitenden Ermittlers zu übernehmen, bevor sie noch irgendetwas über den Mord wissen. Es ist eine unausgesprochene Regel, die hässliche Streitereien vermeidet, denn so kann keiner dem anderen vorwerfen, sich die Dunker zu schnappen und die Whodunits dem anderen zu überlassen. Indem Dave Brown gewartet hat, bis der Tatort ins Blickfeld kam, hat er die Regel umgangen, und wie nicht anders zu erwarten, macht ihm Worden das klar.
»Egal, was das da ist«, sagt er, »bei diesem Fall werde ich dir nicht helfen.«
»Hab’ ich vielleicht um deine Scheißhilfe gebeten?«
Worden zuckt die Achseln.
»Es ist ja nicht so, dass ich die Leiche schon gesehen habe.«
»Viel Glück.«
Brown will diesen Mord nur wegen der Lage des Tatorts. Und das ist ein ziemlich guter Grund. Erstens steht der Cavalier jetzt am 1900er-Block der Johnson Street im Sumpf von South Baltimore, und der Sumpf von South Baltimore befindet sich tief im Innern von Billyland. Billyland erstreckt sich von Curtis Bay bis Brooklyn und von South Baltimore weiter durch Pigtown und Morrell Park und ist für die Cops von Baltimore ein eigenes Stadtviertel, eine Subkultur, der natürliche Lebensraum der Nachkommen von Zuzüglern aus Virginia, vor allem aus dem Westen Virginias, die während des Zweiten Weltkriegs ihre Kohlegruben und Berge verließen, um in den Fabriken von Baltimore zu arbeiten. Zum Leidwesen der etablierten weißen Bevölkerungsgruppen strömten diese »Billies« zuhauf in die roten Back- und Kunststeinhäuser in den südlichen Ausläufern der Stadt – ein Zustrom, der Baltimore ebenso prägte wie die gleichzeitige Zuwanderung Schwarzer aus Virginia und den beiden Carolinas. Billyland hat seine eigene Sprache, seine eigene Logik und sein eigenes soziales Gefüge. Wenn Billies gefragt werden, wo sie wohnen, dann sagen sie nicht, dass sie aus »Baltimore« kommen, sondern aus »Bawlmer«. Das Näseln, das man in den weißen Vierteln der Stadt so häufig hört, verrät die Herkunft vieler Bewohner aus den Appalachen. Und während auch die echtesten Billies seit der Fluoridierung des Trinkwassers mit jeder Generation mehr Zähne behielten, kann nichts sie daran hindern, sich ihre Prachtkörper von den Tattookünstlern auf der East Baltimore Street verschönern zu lassen. Und ein Billy-Girl wird vielleicht die Polizei rufen, wenn ihr Freund ihr eine Bierflasche an den
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