Homicide
Söhne Italiens war. Doch das Römerreich überlebte nicht einmal vier Jahre. Um der veränderten Demografie seiner Stadt Rechnung zu tragen, lockte der Bürgermeister Battaglia 1985 mit einem gut dotierten Beraterposten weg und öffnete die oberen Etagen der Polizeibehörde für die Schwarzen.
Während D’Addario in der auslaufenden italienischen Flut als Lieutenant im Morddezernat strandete, verdankten die Männer unter ihm ihre Position zumeist den Antidiskriminierungsmaßnahmen des neuen Leitbilds
Affirmative Action.
Als Mann der leisen Töne und der Innenschau zugeneigt, war D’Addario eine Ausnahmeerscheinung unter den Vorgesetzten dieser paramilitärischen Organisation. Schon vor langer Zeit hatte er gelernt, jenen Grundimpuls zu unterdrücken, der einen Vorgesetzten dazu bewegt, seine Männer einzuschüchtern, jeden ihrer Schritte zu überwachen und sie durch Untersuchungen zu schleifen. In den Districts konnte man derartiges Verhalten oft bei neuen Vorgesetzten beobachten, denen nichts anderes einfiel, als sich wie Tyrannen aufzuführen, um bloß nicht als Weicheier zu gelten. In jedem District gab es einen Schichtleiter oder Sector Sergeant, der sich von seinen Leuten auf einem Formblatt erklären ließ, warum sie zehn Minuten zu spät zum Appell erschienen waren, oder der um vier Uhr morgens die Wartepositionen seines Districts abklapperte, um einen armen Streifenpolizisten beim Schlafen im Funkwagen zu erwischen. Entweder wuchs ein solcher Vorgesetzter in seine Aufgaben hinein, oder seine besten Leute machten sich einfach klein, um sich schließlich versetzen zu lassen.
Im Morddezernat kann ein autoritärer Schichtleiter noch rascher mit der Verachtung seiner Männer rechnen – denn die achtzehn säßen wohlnicht im fünften Stock des Präsidiums, wenn sie nicht die Cops mit der größten Eigeninitiative wären. Im Morddezernat gilt noch das Gesetz der natürlichen Selektion. Kann ein Detective genügend Fälle abschließen, bleibt er, gelingt ihm das nicht, muss er gehen. Unter diesem Aspekt gilt: Wenn ein Cop gewitzt genug ist, sich ins Morddezernat hochzuarbeiten und dann seine fünfzig, sechzig Fälle einzufahren, braucht er keinen Schichtleiter, der ihm im Nacken sitzt. Natürlich ist ein höherer Dienstgrad mit Privilegien verbunden, doch wenn ein Vorgesetzter im Morddezernat auf sein Recht pocht, seinen Untergebenen bei jeder sich bietenden Gelegenheit in den Hintern zu treten, werden ihm die Sergeants mit Distanz und die Detectives mit übertriebener Vorsicht begegnen und sich letztlich nicht mehr auf ihre Instinkte verlassen können oder wollen.
Gary D’Addario aber ließ seinen Männern Handlungsspielraum und übernahm die Rolle des Prellbocks zwischen ihnen und dem Captain und den noch höheren Rängen der Befehlskette. Damit riskierte er einiges, und vor allem das Verhältnis zu seinem Captain war in den letzten vier Jahren nicht ohne Spannungen geblieben. Da war Bob Stanton, der andere Schichtleiter, schon eher nach des Captains Geschmack. Der zugeknöpfte frühere Detective im Raubdezernat war vom Captain persönlich ausgewählt worden, um die zweite Schicht zu leiten. Stanton führte ein strengeres Regiment, seine Sergeants hielten ihre Männer stärker unter Kontrolle, und die Detectives waren angehalten, Zahlungen für Überstunden und Auftritte bei Gericht, ein begehrtes Zubrot, so weit wie möglich zu vermeiden. Stanton mochte ein guter Lieutenant und ein fähiger Cop sein, doch seine Sparsamkeit und seine uninspirierten Methoden hatten zur Folge, dass mehr als ein altgedienter Detective aus seiner Schicht nur auf die Gelegenheit wartete, zu D’Addarios Truppe zu wechseln.
Die Sergeants und Detectives wussten, was sie D’Addario für sein Wohlwollen schuldig waren: Sie mussten Mordfälle lösen. Sie mussten so viele Mordfälle lösen, dass Seine Eminenz mit dieser Zahl seine milde und gütige Herrschaft rechtfertigen konnte. Die Quote der gelösten Fälle ist im Morddezernat das Nonplusultra, der Anfang und das Ende jeder Debatte.
Daher starrt D’Addario jetzt lange und ernst auf die rote Tinte aufseiner Tafelhälfte. Das weiße Rechteck ermöglicht nicht nur einen raschen Vergleich zwischen den einzelnen Detectives, sondern auch eine oberflächliche Einschätzung der beiden Schichten. So trennt die Tafel – und die auf ihr verbuchte Aufklärungsquote – Baltimores Mordermittler in zwei separate, unabhängig voneinander arbeitende Trupps. Ältere Detectives, die sich noch
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