Homicide
angeschossen, als er mit einer Pistole herumspielte. Warum sorgen wir nicht gemeinsam dafür, dass das gefährliche Ding aus dem Haus kommt?«
Der Junge lässt sich nicht aufs Glatteis führen.
»Ich weiß nichts von einer Waffe.«
Worden schüttelt den Kopf. Er könnte jetzt die Spurensicherung rufen und sie ein paar Stunden lang das Haus auf den Kopf stellen lassen, und wenn es sich um einen Mord handelte, würde er das auch tun. Doch bei einem versehentlich ausgelösten Schuss können sie sich das sparen. Selbst wenn sie heute die Waffe mitnehmen, ist am Ende der Woche eine neue da.
»Dein Bruder liegt im Krankenhaus«, sagt Worden. »Ist dir das ganz egal?«
Der Junge sieht auf den Boden.
Na gut, denkt Worden, ich habe es wenigstens versucht. Dann behältst du das verdammte Ding eben als Andenken, und wenn du dir selbst ins Bein geschossen oder deiner kleinen Schwester eine Kugel verpasst hast, dann kannst du uns ja wieder rufen. Warum soll ich meine Zeit mit diesem Mist verschwenden, wenn woanders die Leute Schlange stehen, um mich anzulügen? Warum eine 20-Dollar-Pistole suchen, wenn ich diese elende Monroe Street am Hals habe?
Worden fährt mit leeren Händen ins Präsidium zurück, noch niedergeschlagener als zuvor.
Mittwoch, 20. Januar
Eine Längswand des Kaffeeraums wird fast vollständig von einem Rechteck aus weißem Karton eingenommen. Es ist mit Plastikfolie bedeckt und durch schwarze Striche in sechs Spalten unterteilt.
Über den drei rechten Spalten hängt ein Schild mit dem Namen Lieutenant Robert Stanton, dem Leiter der zweiten Schicht des Morddezernats, während die drei linken Spalten mit dem Namen von Lieutenant Gary D’Addario überschrieben sind, dem Leiter der ersten Schicht. Die sechs Spalten unter den Namensschildern der beiden Lieutenants sind jeweils für einen Detective Sergeant, die Teamleiter, gedacht: McLarney, Landsman und Nolan für D’Addarios Schicht; Childs, Lamartina und Barrick für Stantons Truppe.
In den Spalten der einzelnen Teams stehen die Namen der Toten, ihrer ersten Morde im ersten Monat des Jahres. Sind die Fälle abgeschlossen, sind die Namen mit schwarzem Filzstift aufgeführt, dauern die Ermittlungen noch an, sind sie in Rot geschrieben. Links neben dem Namen steht die Aktennummer; das erste Mordopfer des Jahres trägt die Nummer 88001. Neben dem Namen des Opfers verraten ein oder zwei Buchstaben, welche Detectives den Fall bearbeiten. Wofür die Kürzel stehen – also A für Bowman, B für Garvey, C für McAllister –, lässt sich aus der Namensliste der Detectives unten in den jeweiligen Spalten der Teams entnehmen.
Will ein Sergeant oder Lieutenant wissen, wer in welchem Fall der leitende Ermittler ist, braucht er nur die Spalten auf dem weißen Rechteck durchzugehen und weiß innerhalb kürzester Zeit, dass Tom Pellegrini den Mord an Rudy Newsome bearbeitet – und anhand der roten Schrift, dass der Fall noch offen ist. Die Vorgesetzten des Morddezernats sehen in dem weißen Rechteck ein wichtiges Instrument, um sich ein Bild von den Verantwortlichkeiten zu machen und eine interne Statistik zu führen. Die Detectives des Dezernats hingegen betrachten es als Strafe und lästige Hinterlassenschaft schon längst pensionierter Sergeants und verstorbener Lieutenants. Bei ihnen heißt es schlicht »die Tafel«.
Schichtleiter Gary D’Addario – von seinen Männern auch Dee, LTD oder schlicht Seine Eminenz genannt – kann wie ein heidnischer Priester vor den Tempel des Sonnengotts an die Tafel treten und die roten und schwarzen Hieroglyphen in den Spalten unter seinem Namen betrachten. Und die Kaffeemaschine ist noch nicht durchgelaufen, da weiß er auch schon, welcher seiner drei Sergeants sich an die Gebote gehalten hat und wer zu den verlorenen Schafen gehört. Betrachtet erdie Buchstabenkürzel neben den einzelnen Mordopfern, weiß er Gleiches von seinen fünfzehn Detectives. Die Tafel verrät alles – Vergangenheit und Gegenwart, verewigt auf weißer Plastikfolie. Man erfährt, wer bei Beziehungstaten mit einem halben Dutzend Angehöriger als Zeugen Speck ansetzen konnte und wer bei einem Drogenmord in einem leer stehenden Ghettohaus ausgehungert wurde. Wer die reiche Ernte eines Selbstmords mit einem Abschiedsbrief einfahren durfte, und wer in den sauren Apfel eines unidentifizierten, gefesselten und geknebelten Opfers im Kofferraum eines Wagens von der Autovermietung am Flughafen beißen musste.
Heute ist die Tafel, die den Schichtleiter
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