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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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empfängt, ein blutiges Schlachtfeld; die meisten Namen in D’Addarios Abschnitt prangen in leuchtendem Rot. Stantons Truppe begann das neue Jahr mit der Nachtschicht und konnte am 1. Januar bis zum frühen Morgen fünf Leichen einsammeln. Alle bis auf eine waren das Resultat von Streitereien unter Betrunkenen oder versehentlich ausgelöster Schüsse, die jetzt in Schwarz da stehen. Eine Woche später gab es den Schichtwechsel: Stantons Leute arbeiteten nun tagsüber und D’Addarios Mannschaft von vier bis Mitternacht sowie auf Nachtschicht. In dieser Zeit bekamen sie auch ihre ersten Fälle des neuen Jahres. Nolans Team rückte am 10. Januar zu einem Raub im Drogenmilieu mit einem Erstochenen auf dem Rücksitz eines Dodge aus. In der gleichen Nacht schickte man McLarneys Team zu einem schwierigen Fall, bei dem ein Homosexueller mittleren Alters erschossen wurde, als er im unteren Charles Village seine Wohnungstür öffnete. Dann bekam Fahlteich aus Nolans Team seinen ersten Fall, einen Erschlagenen bei einem Raubüberfall in Rognel Heights ohne Tatverdächtige. McAllister wiederum übernahm den Fall eines fünfzehnjährigen Weißen, der wegen zwanzig Dollar Schulden bei seinem Dealer einen Stich ins Herz abbekam, und konnte die rote Serie mit einer raschen Festnahme durchbrechen.
    Aber die Morde blieben auch in der folgenden Woche alle offen. Wie der Fall von Kenny Vines, den Eddie Brown und Waltemeyer im Parterre eines Apartmenthaus auf dem Bauch liegend fanden, ein roter Brei, wo sein rechtes Auge gewesen war. Obwohl Brown den achtundvierzigjährigen Vines seit Jahren kannte – Vines kannte man einfach, wenn man schon einmal in der West Side gearbeitet hatte –, konnte erden Toten zunächst nicht identifizieren. Der Besitzer einer Autowerkstatt in der Bloomingdale Road war seit Jahren tief in illegales Glücksspiel und den Handel mit gestohlenen Autoteilen verwickelt, doch erst als er begann, mit größeren Mengen Kokain zu dealen, machte er sich ernsthaft Feinde. Auf Vines folgten zwei Nächte später Rudy Newsome und Roy Johnston, die im Abstand von wenigen Minuten an Landsmans Team gingen. Anschließend rief man die Detectives zu einem Doppelmord in der Luzerne Street, bei dem ein Gangster in einem Territorialstreit in ein Drogenversteck eindrang und wild drauflosfeuerte. Zwei Männer wurden erschossen, zwei verwundet. Naturgemäß zogen es die Überlebenden vor, sich an nichts erinnern zu können.
    Insgesamt hatten sie also neun Leichen und acht Fälle. Nur ein Fall war abgeschlossen, und bei einem anderen standen sie kurz vor einer Verhaftung. Ihre Aufklärungsquote war so schlecht, dass man D’Addario mit Fug und Recht als einen der frustriertesten Lieutenants des Präsidiums bezeichnen konnte.
    »Mir ist aufgefallen, Sir«, sagt McLarney, der seinem Vorgesetzten in den Kaffeeraum folgt, »und sicher werden auch Sie in Ihrer unendlichen Weisheit festgestellt haben …«
    »Fahre fort, mein Guter!«
    »… dass auf unserer Seite der Tafel viele rote Namen stehen.«
    »Ganz recht.« D’Addario steigt auf die gestelzte Redeweise ein, einer seiner Tricks, um seine Sergeants bei Laune zu halten.
    »Wenn ich mir einen Vorschlag erlauben dürfte, Sir?«
    »Ich bin ganz Ohr, Sergeant McLarney.«
    »Vielleicht sollten wir die offenen Fälle in Schwarz aufführen und die gelösten in Rot. Damit könnten wir die Chefs eine Zeit lang hinters Licht führen.«
    »Das wäre eine Lösung.«
    »Natürlich«, fügt McLarney hinzu, »könnten wir auch ausschwärmen und ein paar Leute einbuchten.«
    »Das wäre auch eine.«
    McLarney lacht, aber nicht zu viel. Gary D’Addario wird von seinen Sergeants und Detectives wie ein Prinz oder ein wohlmeinender Autokrat angesehen, der von seinen Untergebenen uneingeschränkte Leistung und Treue verlangt. Dafür haben die Männer aus seiner Schichtauch seine volle Unterstützung. Außerdem schützt er sie vor den schlimmsten Launen und dummen Einfällen der oberen Etagen. Der hochgewachsene Mann mit den schütteren Büscheln silbergrauen Haars und dem ruhigen, würdigen Auftreten ist einer der letzten Überlebenden des italienischen Kalifats, das nach langer irischer Herrschaft vorübergehend im Präsidium regierte. Das kurze Zwischenspiel begann mit Frank Battaglias Aufstieg auf den Posten des Polizeichefs und setzte sich fort, bis niemand mehr befördert wurde, der nicht nur die bestandene Prüfung zum Sergeant vorweisen konnte, sondern auch Mitglied in der Bruderschaft der

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