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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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an ein Leben vor der Tafel erinnern können, haben das Morddezernat als Einheit erlebt, in der sie an den Fällen der vorigen Schicht einfach weiterarbeiteten, weil sich das gesamte Dezernat die Lösung eines Falls zugute halten konnte. Obwohl die Tafel ursprünglich den Zusammenhalt und die Überschaubarkeit fördern sollte, hat sie nun den Effekt, dass die beiden Schichten – und jedes der sechs Teams – miteinander um Rot und Schwarz wetteifern wie ein Rudel windiger Autohändler von Luby Chevrolet, die »Gelegenheitskäufe« anpreisen.
    Obwohl diese Entwicklung schon lange vor Stantons Berufung begann, trug die unterschiedliche Herangehensweise der Lieutenants dazu bei, den Wettbewerb zu verschärfen. In den letzten Jahren trafen die Männer der beiden Gruppen nur während der halbstündigen Schichtwechsel zusammen, oder wenn ein Detective, was selten vorkam, Überstunden machte, um die diensthabende Truppe als zweiter Mann bei einer Befragung oder beim Eintreten einer Tür zu unterstützen. Die Konkurrenz wurde zwar immer heruntergespielt, aber irgendwann stellte sich auch der letzte Detective allein vor das weiße Rechteck und überschlug im Stillen die Aufklärungsquoten der einzelnen Schichten oder Teams. Das war paradox, denn sie alle wussten, dass die Tafel einen falschen Eindruck vermittelte, da sie lediglich die Anzahl der bearbeiteten Morde eines Jahres wiedergab. Dabei konnte ein Team drei Wochen lang Nacht für Nacht knietief in den kompliziertesten Fällen stecken: Schusswechsel mit Polizeibeteiligung, ungeklärte Todesfälle, schwerer Raub, Geiselnahme, Überdosis und was sonst noch alles, und nichts davon schlug sich in der schwarzen und roten Tinte nieder.
    Hinzu kommt, dass die Aufklärung eines Mords oft vom reinen Glück abhängt. Daher kennt der Wortschatz der Ermittler auch zwei Arten von Fällen: »Whodunit« und »Dunker«. Bei einem Whodunit stehen sie vor einem Rätsel, während sie bei einem Dunker bereits jede Menge Indizien und einen naheliegenden Verdächtigen haben. DenWhodunit etwa hat man vor sich, wenn man in einen gottverlassenen Hinterhof gerufen wird, wo man außer einem Toten kaum etwas anderes findet. Bei einem Dunker hingegen begegnet der Detective neben einer Toten auch gleich dem reuelosen Ehegatten, der sich nicht einmal die Mühe gemacht hat, seine blutverschmierten Kleider zu wechseln, und der ohne jede Aufforderung gesteht, dass er die Schlampe erstochen hat und es wieder tun würde, wenn es nicht schon erledigt wäre. Jeder im Dezernat ist sich bewusst und hat akzeptiert, dass es Fälle gibt, in denen man lange ermitteln muss, und andere, wo man kaum mehr als Papierkram hat. Hin und wieder wirft ein Teamleiter einem anderen vor, die eigenen Detectives zu einem Fall gescheucht zu haben, der im Funk wie ein Mord im Familienumfeld klang, oder, schlimmer noch, einen Ruf ignoriert zu haben, der scheinbar auf einen nach allen Regeln der Kunst durchgeführten Drogenmord deutete.
    Die Tafel macht natürlich keinen Unterschied zwischen einem Dunker, bei dem die Lösung auf der Hand liegt, und einem Whodunit, der erst nach umfangreichen Ermittlungen erledigt ist: Der eine Fall ist ebenso schwarz wie der andere. Sie haben dieses Denken so verinnerlicht, dass altgediente Detectives, wenn sie sich auf dem büroeigenen Fernseher einen alten Western anschauen und ein Revolverheld vor den Augen des auf der Straße versammelten gottesfürchtigen Siedlervolks niedergeschossen wird, häufig rufen:
    »Na endlich! Ein Dunker!«
    In den letzten Wochen aber waren Dunker für D’Addarios Schicht Mangelware gewesen, und im Anschluss an Wordens Ermittlungen zu John Randolph Scott in der Monroe Street zeigte sich deutlicher denn je, wie abhängig ihr Lieutenant von Tafel und Aufklärungsquote war. Der Captain hatte nämlich den ungewöhnlichen Schritt gewagt, D’Addario sowie McLarney als Glieder der Befehlskette zu überspringen, und Worden und James angewiesen, alle Berichte direkt an seinen Verwaltungschef weiterzuleiten. Was McLarney betraf, hatte das einen gewissen Sinn, da er mit vielen Streifenpolizisten des Western District, also potenziellen Verdächtigen, befreundet war. D’Addario hingegen stand nicht im Verdacht eines Loyalitätskonflikts, und nach neun Jahren im Morddezernat wusste er, wie man einen Red Ball bearbeitete. Als dann noch die Aufforderung kam, seine Kraft lieber den Routinedingenzu widmen, anstatt sich mit einem so sensiblen Fall wie der Monroe Street zu befassen,

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