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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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sitzen und wieder die Greenmount hinunterrollen.
    »Verdammt, wer ist dieser Rodriguez?«
    »Ich glaube, du hast ihm einiges zu sagen.«
    »Da kannst du Gift drauf nehmen. Der erste Officer, der eintrifft, hat den Tatort zu sichern. Und was machen die? Sie fahren ins Krankenhaus, sie fahren ins Präsidium, sie gehen mittagessen, und sie lassen zu, dass irgendwelche Leute den Tatort auseinandernehmen. Was er da im Krankenhaus will, ist mir ein Rätsel.«
    Aber Rodriguez ist nicht im Krankenhaus. Da tröstet es Worden auch nicht, dass er ein kurzes Gespräch mit der verstörten Mutter führen kann, die mit zwei weiteren Kindern im Warteraum der Notaufnahme sitzt und ein Papiertaschentuch umklammert.
    »Ehrlich, ich habe keine Ahnung«, erklärt sie den Detectives. »Ich habe mit meinem anderen Sohn Fernsehen geschaut. Plötzlich habe ich einen Knall gehört, wie von einem Feuerwerkskörper oder einer eingeschlagenen Fensterscheibe. James, Derricks Bruder, hat oben nachgesehen und dann gesagt, dass man auf Derrick geschossen hat, als er von der Arbeit nach Hause kam. Ich habe noch mit ihm geschimpft, dass man mit so was keine Späße macht.«
    Worden fällt ihr ins Wort.
    »Mrs. Allen, ich will ganz ehrlich sein. Ihr Sohn wurde in seinem Zimmer angeschossen, aller Wahrscheinlichkeit nach aus Versehen. Außer auf dem Bett haben wir nämlich keine Blutspuren gefunden, auch nicht auf der Jacke, die er beim Heimkommen anhatte.«
    Die Frau schaut den Detective verständnislos an. Worden fährt fort, berichtet ihr von den Bemühungen ihrer Kinder, die Spuren zu beseitigen, und erklärt, dass die Waffe, die ihren Sohn ins Krankenhaus gebracht hat, wahrscheinlich noch im Haus sei.
    »Es ist keine Rede davon, dass jemand angeklagt wird. Wir sind vom Morddezernat, und wenn sich der Schuss versehentlich gelöst hat, verschwenden wir nur unsere Zeit, das wollen wir klarstellen.«
    Die Frau stimmt mit einem leichten Nicken zu. Worden fragt, ob sie bereit sei, zu Hause anzurufen und ihre Kinder um Herausgabe der Waffe zu bitten.
    »Sie können sie vorn auf die Veranda legen und die Tür abschließen,wenn sie möchten«, fährt Worden fort. »Uns ist nur daran gelegen, dass die Waffe aus dem Haus kommt.«
    Die Frau winkt ab.
    »Können Sie das nicht übernehmen?«, fragt sie.
    Worden geht auf den Flur, wo Rick James mit einer medizinischtechnischen Assistentin spricht. Derrick Allens Zustand ist kritisch, aber stabil; er wird aller Wahrscheinlichkeit nach überleben. Und Officer Rodriguez, ergänzt James, ist im Morddezernat und schreibt seinen Bericht.
    »Ich setze dich am Büro ab«, sagt Worden. »Wenn ich jetzt da reinkomme, geh ich jemandem an die Gurgel. Ich fahre noch mal zum Haus und versuche, die Knarre zu kriegen. Frag mich nicht, warum es mir wichtig ist, ob sie das bescheuerte Ding noch haben oder nicht.«
    Eine halbe Stunde später durchforstet Worden erneut Derrick Allens Zimmer. Er entdeckt ein Loch im Fenster und eine Kugel auf der hinteren Veranda. Beides zeigt er dem sechzehnjährigen Bruder.
    Der Junge zuckt die Achseln. »Schätze, auf Derrick wurde in seinem Zimmer geschossen.«
    »Wo ist die Pistole?«
    »Ich weiß nichts von einer Pistole.«
    Es ist eine gottgegebene Wahrheit: Jeder lügt. Und dieses unerschütterliche Axiom hat drei Korollarien:
    A. Mörder lügen, weil sie müssen.
    B. Zeugen und andere Beteiligte lügen, weil sie denken, dass sie müssen.
    C. Alle anderen lügen aus Spaß an der Freude und weil sie dem Grundsatz folgen, der Polizei unter keinen Umständen korrekte Informationen zu geben.
    Derricks Bruder ist der lebende Beweis für das zweite Korollar. Ein Zeuge lügt, um Freunde und Verwandte zu schützen, selbst wenn einer von ihnen mutwillig Blut vergossen hat. Er lügt, um seine Beteiligung an einem Drogendelikt zu vertuschen. Er lügt, um zu verbergen, dass er eine Akte hat oder dass er homosexuell ist, oder auch nur, um seine Bekanntschaft mit dem Opfer zu leugnen. Am häufigsten aber lügt er, um nichts mit einem Mord zu tun zu haben und nicht das Risiko einzugehen, eines Tages vor Gericht aussagen zu müssen. Wenn in Baltimoreein Cop fragt, was man gesehen hat, sind die Standardantwort ein Kopfschütteln und ein abgewendeter Blick. Das ist ein der Stadtbevölkerung seit Generationen eingebrannter Reflex.
    »Ich habe nichts gesehen.«
    »Aber Du hast doch direkt daneben gestanden.«
    Jeder lügt.
    Worden fasst den Jungen noch einmal fest ins Auge.
    »Dein Bruder wurde in diesem Zimmer

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