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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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die untere Etage war reine Routinearbeit gewesen. Wochenlang hatte Pellegrini die Akte Latonya Wallace und alle Spuren gedreht und gewendet und immer wieder versucht, doch noch etwas zu finden: einen neuen Verdächtigen, etwas, das beim ersten oder zweiten Durchgang übersehen worden war. Als die chemische Analyse der Schmierflecken auf der Hose des Mädchens ergab, dass sie möglicherweise mit dem ausgebrannten Laden des Fish Man in Zusammenhang standen, hatte sich Pellegrini mit den sonstigen Spuren befasst, weil er hoffte, eine eindeutigere Verbindung zu dem Ladenbesitzer herstellen zu können.
    Doch alles, was er aufgetrieben hatte, war dieser Lacksplitter. Er und Landsman hatten ihn am Vortag entdeckt, nachdem sie die Kleider des Mädchens zu einer nochmaligen Untersuchung ins Labor der Spurensicherung gebracht hatten. Van Gelder vom Labor hatte sie begleitet, und genau genommen war er es, dem der Lacksplitter an der Innenseite der gelben Strumpfhose des Kindes auffiel.
    Es schien sich um einen seidenmatten, mehrschichtigen Farbauftrag zu handeln, roter Lack über orangem. Hätte es sich um nur eine Farbe gehandelt, wäre es schwierig geworden, die Quelle zu finden, aber die Zahl der Gegenstände in Reservoir Hill, die erst orange und später rot lackiert worden waren, konnte nicht groß sein. Und wie war der Farbsplitteran die Innenseite der Strumpfhose des Mädchens geraten? Und, verdammt noch mal, wie hatten sie ihn bei den ersten Durchgängen übersehen können?
    So sehr sich Pellegrini darüber freute, eine neue Spur entdeckt zu haben, so ärgerlich fand er es, dass sie nicht von Anfang an beachtet worden war. Van Gelder bot ihm dafür keine Erklärung an, und Pellegrini fragte auch nicht nach. Der Mordfall Latonya Wallace war der wichtigste Fall des Jahres, da durfte es einfach nicht sein, dass die Spurensicherung Fehler gemacht hatte.
    Jetzt steht Pellegrini ziemlich ernüchtert hinter den Häusern der Newington Avenue. Er kann es drehen und wenden, wie er will, der Lacksplitter führt nicht einmal ansatzweise in die Nähe des Fish Man – und auf den Fish Man hat es Pellegrini eigentlich abgesehen. Es war der Fish Man, der den Test mit dem Lügendetektor nicht bestanden, der Latonya Wallace gekannt, sie in seinem Laden beschäftigt hatte, der für den Abend, an dem das Mädchen verschwand, nie ein Alibi vorweisen konnte. Der Fish Man. Wer sonst konnte der Mörder gewesen sein?
    Monatelang hatte sich Pellegrini in das Leben des alten Ladenbesitzers hineingekniet, um sich auf die entscheidende Konfrontation mit seinem Hauptverdächtigen vorzubereiten. Absurderweise hatte der sich jedoch längst an die Verfolgung seiner Person gewöhnt. Bald stand an jeder Ecke seines Lebens ein eifriger Polizist, der herumschnüffelte, sammelte, wartete. In jeder Ritze der unscheinbaren Existenz dieses Mannes nistete Tom Pellegrini und grub nach Informationen.
    Inzwischen kannten sie sich in- und auswendig. Pellegrini wusste mehr über den Fish Man, als ihm lieb war, er kannte den jämmerlichen Greis besser als jeden anderen Menschen außerhalb seiner engsten Familie. Der Fish Man hingegen kannte seinen Verfolger nicht nur beim Namen, sondern auch Pellegrinis Stimme und seine Art; er wusste, wie der Detective ein Gespräch einleitete oder eine Frage vorbereitete. Vor allem aber wusste er – es konnte ihm auch kaum verborgen bleiben –, wohinter Pellegrini her war.
    Jeder andere hätte lautstark protestiert. Jeder andere hätte sich einen Anwalt genommen und die Polizei wegen Belästigung angezeigt. Jeder andere, dachte Pellegrini, hätte irgendwann rundheraus erklärt: Dukannst dir deine Marke sonst wohin stecken, wenn du glaubst, dass ich kleine Mädchen umbringe. Doch nichts dergleichen geschah.
    Seit dem zweiten Verhör im Morddezernat hatten die beiden Männer einige merkwürdige Gespräche geführt, eins liebenswürdiger als das andere, deren Ausgangspunkt stets die ursprüngliche Versicherung des Fish Man war, dass er nichts über den Mord wisse. Pellegrini beendete diese Gespräche stets mit der Erinnerung, dass die Ermittlungen noch nicht abgeschlossen seien und er bestimmt noch mehr Fragen haben werde. Und jedes Mal versicherte ihm der Fish Man seine Bereitschaft zur Zusammenarbeit. Erst vor Kurzem hatte ihm Pellegrini wieder einmal angedeutet, dass er ihn womöglich bald noch mal aufs Präsidium bitten werde. Der Tatverdächtige schien bei dieser Aussicht alles anderes als begeistert, legte aber keinen

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