Homicide
Penn Street – ein Doppelsuizid, möglicherweise auch ein erweiterter Suizid aus dem Montgomery County, noch ein Suizidfall aus Anne Arundel, zweimal vermutlich Überdosis, ein ungeklärter plötzlicher Todesfall und ein zehnjähriges Mädchen, das von einem Lastwagen überfahren wurde. Nach knapp einer Stunde haben die beiden Detectives Gewissheit: Die eine Hälfte der geborgenen Kugeln sind Hohlspitzgeschosse, die andere gängige Rundkopfgeschosse.
Dieses ballistische Ergebnis enthält eine gewisse Portion Ironie. Der 9. November ist nicht nur Wahltag in Maryland, es ist auch der Tag, an dem Marylands viel gepriesenes Gesetz zur Einschränkung der Verbreitung billiger Handfeuerwaffen, der sogenannten »Saturday Night Specials«, in Kraft tritt. Das Gesetz war im Frühjahr trotz einer 6,7 Millionen Dollar teuren, von der National Rifle Association finanzierten Kampagne verabschiedet worden. Es sieht die Einsetzung eines Ausschusses vor, der eine Liste billiger Schusswaffen erstellen sollte, um deren Verkauf in Maryland zukünftig zu verbieten. Zwar wird das Gesetz als Sieg über die Gegner der Reglementierung des Waffenbesitzes und als Maßnahme zur Eindämmung der mithilfe von Schusswaffen verübten Gewalttaten gefeiert, letztlich wird es sich aber als weitgehend wirkungslos erweisen. Schon seit den 1970er-Jahren treten diese billigenund primitiven Waffen bei Tötungsdelikten kaum noch in Erscheinung. Mittlerweile haben selbst Teenager halb automatische Pistolen im Bund ihrer Jogginghosen stecken. Smith&Wesson, Glock, Beretta, Sig Sauer – jeder Schwachkopf, also natürlich auch Warren Waddell, ist heutzutage mit einem ordentlichen Schießeisen ausgerüstet. Das als bahnbrechend betrachtete Waffengesetz, auf das die Politiker von Maryland so stolz sind, kommt einfach fünfzehn Jahre zu spät.
Am Tag nach dem Mord an Carlton Robinson ruft Warren Waddell den Bauleiter an und teilt ihm mit, dass er nicht zur Arbeit kommen wird. Und er bittet seinen Vorgesetzten, den am nächsten Tag fälligen Gehaltscheck für ihn entgegenzunehmen und ihn ihm irgendwo in der Stadt zu übergeben. Auf Wunsch der Detectives, die so etwas bereits geahnt haben, lässt die Firmenleitung Waddell ausrichten, er solle ins Firmenbüro nach Essex kommen und den Scheck dort persönlich abholen. Das teilt ihm der Bauleiter mit und fragt ihn dann, ob er Carlton erschossen hat.
»Ich kann jetzt nicht sprechen«, antwortet Waddell.
Zu ihrer Überraschung taucht Waddell am nächsten Morgen tatsächlich auf, um seinen Scheck abzuholen. Misstrauisch beäugt er die Büroangestellten, dann macht er sich rasch aus dem Staub. Zusammen mit einem Freund, der ihm als Chauffeur gedient hat, wird er ein oder zwei Meilen weiter an einer Straßensperre festgenommen. Sie finden bei ihm eine große Summe Geld, eine American Express Card und einen amerikanischen Pass. Er verweigert die Aussage und macht sich bei Garvey und McAllister dadurch unbeliebt, dass er auf der Fahrt in der Stadt vorgibt, Bauchschmerzen zu haben, was die beiden Detectives zwingt, zwei Stunden im Sinai Hospital zu vergeuden.
Alles an diesem Mordfall spricht für Waddell als Täter – die letzten Worte des Opfers, der Streit und die Drohungen am Vortag, die Mischung aus Hohlspitzgeschossen und Standardmunition, das Verhalten des Tatverdächtigen nach dem Mord. Doch als Garvey den Fall der Staatsanwaltschaft vorlegt, muss er sich sagen lassen, dass es zwar nicht schwer sein wird, Anklage zu erheben, die Sache aber kaum Aussichten auf Erfolg vor Gericht hat.
Das Kernstück des Falls, Carlton Robinsons letzte Worte, wird möglicherweise nicht als Beweis zugelassen, weil ihm der Officer amTatort nicht gesagt hatte, dass er sterben werde. Und Robinson selbst hatte dem Officer gegenüber auch nicht zum Ausdruck gebracht, dass er mit seinem Ableben rechne. Die Polizisten taten eben, was jeder vernünftige Mensch getan hätte: Sie riefen einen Rettungswagen und redeten Robinson gut zu, tapfer durchzuhalten, er müsse nur bei Bewusstsein bleiben, dann werde er es schon schaffen.
Da weder das Opfer noch seine Helfer den unmittelbar bevorstehenden Tod zur Kenntnis nahmen, war damit zu rechnen, dass Robinsons Anschuldigung von einem Verteidiger, der das Gesetzbuch von Maryland kannte, einfach vom Tisch gefegt werden würde.
Und ohne die Aussage des Sterbenden bleiben ihnen kaum mehr als schwache Indizien. Waddell, der schon einen Mordprozess hinter sich hat und die Mühlen der Justiz kennt,
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