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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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sie irgendwie recht hatten: Für die Strafverfolgung war die Exhumierung fast schon überflüssig. Sie hatten Geraldine und ihren Auftragskiller Edwin bereits mit drei Morden und wiederholtem Mordversuch an Dollie Brown festnageln können. Außerdem war Geraldine gemeinsam mit einem weiteren Täter wegen eines vierten Mords angeklagt, dem an Albert Robinson, dem alten Säufer aus New Jersey, den man im Jahr 1986 an einer Gleisanlage in Clifton Park gefunden hatte. Waltemeyer war mit Corey Belt und Mark Cohen für einige Tage nach Bergen County gefahren, um Zeugen zu vernehmen und die Anklage wasserdicht zu machen. Ob nun vier Morde oder fünf – war nicht längst der Punkt erreicht, an dem eine weitere Anklage nichts mehr am Urteil ändern würde?
    Als die Totengräber die Bruchstücke des Sargdeckels aufstemmten, fragte sich Waltemeyer, ob das Ganze die Mühe überhaupt wert war. Miss Geraldine wird so oder so in den Knast wandern, während man nicht ausschließen kann, dass sie mit ihrer heutigen Aktion den Seelenfrieden der Familie Gilliard stören. Andererseits muss der Detective sich eingestehen, dass auch er ein bisschen neugierig ist, da geht es ihm nicht anders als den Docs in der Penn Street.
    Die Totengräber werfen die verrotteten Latten aus dem Loch und stellen sich an den Rand des Sargs. Waltemeyer beugt sich vor und späht nach unten.
    »Ja, und?«, fragt der Manager.
    Waltemeyer wirft einen Blick auf Gilliards Foto, dann noch mal nach unten auf den Sarg. In Anbetracht der Umstände sieht der Tote ziemlich gut aus.
    »Er kommt mir ein bisschen zu klein vor«, sagt der Detective. »Wenn man das Foto sieht, denkt man, er müsste größer sein.«
    »Sie schrumpfen«, erklärt der Friedhofsleiter ungeduldig. »Die bleiben da unten nicht fett.«
    Ja, denkt Waltemeyer. Kann ich mir vorstellen.
    Er ist eine Heidenarbeit, den kompletten Sarg aus der Erde zu wuchten, und nach zehn Minuten geben die Totengräber auf. Die Helfer derRechtsmedizin übernehmen, sie heben die sterblichen Überreste einfach aus dem Sarg und legen sie auf eine Plastikplane.
    »Super Sache, Waltemeyer«, sagt einer der Helfer, als er dreckverschmiert aus dem Grab steigt. »Sie sind gerade mein Lieblingsdetective geworden.«
    Waltemeyer und die Totengräber ziehen mit ihrer Trophäe langsam über den Schlammpfad zur unbefestigten Straße, die sich durch den Friedhof Mount Zion zieht. Während der Detective vorsichtig auf seinen Cavalier zugeht, beobachtet er das Verladen der Leiche in den schwarzen Lieferwagen. Dann späht er durch die Windschutzscheibe ins Innere seines Autos. Mark Cohen, der Staatsanwalt, ist scheinbar voll und ganz in seine Akten vertieft.
    »Haben Sie ihn gesehen?«, ruft er durch die Scheibe.
    Cohen blickt kaum auf. Er hat den Kopf in seine Aktentasche gesteckt und blättert durch die Ordner.
    »Mark, haben Sie ihn gesehen?«
    »Ja«, erwidert Cohen. »Hab’ ich.«
    »Sieht ganz schön gruselig aus, nicht wahr?«, sagt Waltemeyer. »Wie in einem Horrorfilm.«
    »Fahren wir in Stadt zurück«, meint Cohen. »Ich muss dringend ins Büro.«
    Ja, sicher, denkt Waltemeyer. Er hat die Leiche gesehen.
    Auf die eigentliche Autopsie, die ohne irgendwelche Auffälligkeiten durchgeführt wird, verzichtet der Detective. Die Schnetzler sammeln für die Toxikologie Proben aus Gewebe und Organen und suchen die gesamte Leiche nach äußeren Spuren von Gewaltanwendung ab. Ganz normale medizinische Arbeit, etwas für die praktische Prüfung im rechtsmedizinischen Examen. Zumindest scheint es so, bis ein Helfer beim Zunähen der Brusthöhle das Namensschild eines Krankenhauses am Arm des Leichnams bemerkt. Die Tinte ist zwar ausgeblichen, doch der darauf vermerkte Name noch lesbar. Und er lautet nicht Rayfield Gilliard.
    Zwanzig Minuten später blökt das Telefon im Büro des Morddezernats. Der Detective, der das Gespräch annimmt, ruft durch den Kaffeeraum: »Waltemeyer, die Rechtsmedizin auf Leitung eins.«
    Waltemeyer setzt sich an Dave Browns Schreibtisch, nimmt den Hörer ab und beugt sich vor. Kurz darauf schlägt er sich an die Stirn, dann kneift er sich in die Nasenwurzel.
    »Wollen Sie mich auf den Arm nehmen? Das ist doch nicht Ihr Ernst!« Er lässt sich zurücksinken und starrt auf die vergilbten Fliesen der Deckenverkleidung. Sein Gesicht ist zu einer komischen Grimasse verzogen, fast schon schmerzverzerrt. Er greift sich einen Bleistift von Browns Schreibtisch und beginnt, auf der Rückseite eines Pfandscheins die

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