Homicide
Alltags kollidiert. Für einen Mordermittler aber ist Vollkommenheit gänzlich unerreichbar. In den Straßen der Stadt ist ein Traumjahr nichts als ein Hauch, ein sterbender Hoffnungsschimmer, blass und ausgezehrt und ermattet.
Und sobald es aufflackert, wird es vom perfekten Mord niedergewalzt.
Sonntag, 11. Dezember
»Sieh mal«, sagt Terry McLarney und lässt den Blick mit gespielter Unschuld über die Ecken der Bloom Street gleiten. »Da geht ein Verbrecher.«
Es ist, als hätte der Junge einen halben Block vor ihnen die Worte gehört. Als ihn die Scheinwerfer des Cavalier streifen, dreht er sich plötzlich auf dem Absatz um und geht die Straße hinunter. Dann zieht er mit einer Hand eine zusammengerollte Zeitung aus der Hosentasche. McLarney und Dave Brown sehen beide, wie sie sanft im Rinnstein landet.
»Damals auf Streife hatten wir’s noch leichter«, sagt McLarney wehmütig. »Weißt du noch?«
Dave Brown weiß es. Wenn ihr ziviler Chevy ein Funkwagen wäre und sie Uniform trügen, wenn die Kreuzung Bloom und Division zu ihrem Revier gehörte, dann hätten sie jetzt eine schöne Festnahme. Sie würden den Schleicher an die Wand schleudern, ihm Handschellen anlegen und dann mit ihm zu der aufgerollten Zeitung zurückkehren, zu dieser improvisierten Schutzhülle, unter der sich ein Messer oder eine Spritze oder beides versteckt.
»Als ich noch im Western war, gab es in meiner Einheit zwei Kollegen«, erinnert sich McLarney sehnsuchtsvoll, »die immer gewettet haben, wer von ihnen schneller eine Festnahme macht, nachdem er rausgefahren ist.«
»Im Western«, sagt Brown, »braucht man dafür fünf Minuten.«
»Weniger«, meint McLarney. »Irgendwann habe ich ihnen gesagt, sie sollen den Schwierigkeitsgrad ein bisschen steigern. Aber irgendwie mochten sie das nicht … war ihnen zu viel Arbeit.«
Brown biegt ab in die Bloom und dann in die Etting. Sie sehen weitere Kleindealer, die sich beeilen, ihre Plastiktütchen fortzuwerfen oder in die Eingänge zu huschen.
»Siehst du das Haus dort?« McLarney zeigt auf ein Gebäude, einen zweistöckigen Haufen angemalter Ziegelsteine. »Da drinnen wurde ich mal zusammengeschlagen. Gleich im Flur … Habe ich dir die Geschichte schon erzählt?«
»Ich glaube nicht«, antwortet Brown höflich.
»Im Einsatzbefehl hieß es, Mann mit Messer. Als ich vorfahre, braucht mich der Kerl nur zu sehen, und schon rennt er ins Haus …«
»Klare Sache, hinreichender Tatverdacht«, sagt Brown, wendet nach rechts und kreuzt zurück auf die Pennsylvania Avenue.
»Ich ihm also nach, und da stehe ich im Wohnzimmer in einer Versammlung von lauter riesigen Schwarzen. Irre Szene, einen Moment lang haben wir uns einfach nur angeschaut.«
Dave Brown lacht.
»Ich schnappe mir meinen Mann, da fallen sie plötzlich über mich her. Fünf oder sechs waren es.«
»Und was hast du getan?«
»Mich verprügeln lassen«, meint McLarney lachend. »Den Typen habe ich allerdings nicht losgelassen. Bis meine Kumpel auf meinen Notruf hin angerückt sind, waren sie alle durch den Hinterausgang verduftet. Alle, bis auf meinen Kerl, der dann die ganze Prügel für seine Freunde einstecken durfte, die ihn im Stich gelassen haben. Irgendwie tat er mir leid.«
»Und was war mit dir?«
»Musste am Kopf genäht werden.«
»War das, bevor oder nachdem du angeschossen wurdest?«
»Vorher«, sagt McLarney. »Die Kugeln habe ich abgekriegt, als ich im Central District war.«
Aus McLarney sprudeln jetzt Geschichten hervor. Er ist aufgeräumter Stimmung auf dieser Fahrt durch die nächtlichen Straßen Baltimores, ein Effekt, den eine Tour durch den Western District jedes Mal auf ihn hat. Wenn McLarney durchs Ghetto fährt, fällt ihm immer etwas Verrücktes ein, das ihm an dieser Ecke passiert ist, oder etwas Komisches, das er dort unten auf der Straße gehört hat. Oberflächlich betrachtet erinnern seine Geschichten eher an Albträume, gräbt man jedoch tiefer, erkennt man in McLarneys Schilderungen die abgründige Sprachgewalt dieser endlosen innerstädtischen Komödie von Verbrechen und Strafe.
Das hier ist zum Beispiel die Ecke, an der Snot Boogie erschossen wurde.
»Snot Boogie?«, fragt Brown ungläubig.
»Ja«, sagt McLarney, »seine Freunde nannten ihn wirklich Snot Boogie, Schnodderschnauze.«
»Wie nett.«
Mclarney lacht, dann beginnt er mit der Parabel von Snot Boogie, der sich dazugesellte, als seine Nachbarn um Geld würfelten. Er wartete, bis der Pot gut gefüllt war, schnappte sich
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