Homicide
Straßen im Western District, dass er auch an einem Fall arbeitet, der niemanden interessiert. Nicht Worden, nicht James, nicht Brown. Dem Toten ist es egal, und seinem Killer sowieso. Sogar McLarney. In dieser Nacht ist die Polizeiarbeit weder mit Mühen noch mit Druck verbunden, bar aller gefühlsmäßigen Anteilnahme und das Ergebnis ohne Bedeutung.
Für McLarney ist die Suche nach Lenore eine angenehme Abwechslung, ebenso erfreulich wie der Mord, den er im vergangenen Monat mit Waltemeyer bearbeitet hatte. Was könnte bedeutungsloser sein alsein Drogenüberfall in einer Gasse in Pimlico, mit einem Junkie als Opfer und einem Zeugen, der nur Mist redete. Und dann der junge Tatverdächtige, Fat Danny mit Namen, der sich als völlig unschuldig bezeichnete und im Wohnzimmer seiner Großeltern weinend Gerechtigkeit einforderte, während die Detectives durchs Haus stapften und nach der Mordwaffe suchten.
»Nun hör schon auf zu flennen«, erklärte McLarney dem Verdächtigen, einem Bullen von Jungen, mindestens eins neunzig. »Beruhige dich …«
»I CH HABE NIEMANDEN UMGEBRACHT «, schrie Fat Danny und rutschte immer weiter von ihm fort, bis ihn McLarney an der Küchenspüle in die Enge gedrängt hatte und sich seine Hand um den Hals des Jungen legte.
»Nun komm schon«, sagte McLarney. »Sonst müssen wir dir am Ende noch wehtun.«
»I CH HABE NIEMANDEN …«
»Sieh mich an!« McLarneys Augen funkelten. »Du bist festgenommen. Willst du, dass wir dir wehtun?«
Schließlich brachte ein Officer vom Western, einer von der mobilen Einsatztruppe, den heulenden und zappelnden Verdächtigen zum Schweigen, indem er sagte: »Menschenskind, Junge, du hast ein Verbrechen begangen wie ein Mann. Dann benimm dich jetzt auch wie einer.«
Später in der Nacht, nachdem McLarney eine Cola und einen Schokoriegel in den Vernehmungsraum gebracht und mit dem Dicken Freundschaft geschlossen hatte, setzte er sich an seinen Schreibtisch und dachte, wie einfach und seltsam erfreulich das Ganze doch gewesen war. Wenn es nicht immer um so viel ginge, sagte er sich, wäre es wirklich ein toller Job.
In dieser Nacht war es ähnlich. Wenn wir Lenore nicht finden, wenn sie auch weiterhin ein Phantom bleibt, dann rollen wir eben für den Rest unseres Lebens in einer vierzylindrigen Klapperkiste durch West Baltimore, erzählen uns Geschichten, reißen Witze und sehen den hirntoten Homeboys dabei zu, wie sie ihren Stoff in den Rinnstein werfen. Doch wenn wir sie irgendwie auftreiben können, müssen wir zurück. Wir müssen zurück und Einsätze annehmen und uns mit Dingen befassen, die vielleicht ganz real sind: eine Frau, vergewaltigt und aufgeschlitzt,ein kleines Kind, grün und blau geprügelt, ein Cop, der dein Kollege und Freund ist, zweimal in den Kopf geschossen.
Letzteres war alles andere als erfreulich. Es war real und brutal und nicht zu sühnen. Die Schüsse auf Cassidy hatten McLarney mitgenommen wie kein anderer Vorfall und schmerzten jedes Mal aufs Neue, wenn er daran dachte.
Zwar hatten sich all seine Bemühungen ausgezahlt: Butchie Frazier, der zur Urteilsverkündung in Elsbeth Bothes Gerichtssaal vor ein paar Monaten in Handschellen vorgeführt wurde und ein letztes Mal verächtlich schnaubte, als er »lebenslänglich plus zwanzig« hörte, Entlassung auf Bewährung frühestens nach fünfundzwanzig Jahren. Der Schuldspruch und das Urteil sind wichtig für McLarneys Seelenfrieden. Nicht auszudenken, wie er sich fühlen würde, wäre es anders ausgegangen. Aber »lebenslänglich plus zwanzig« war bloß ein Sieg vor Gericht und erschien nur so lange befriedigend, wie Gene Cassidy im Gerichtssaal war.
Nein, letztlich war es nicht genug – nicht für McLarney und ganz gewiss nicht für Gene. Nachdem Cassidy in einer Schule in New Jersey den Umgang mit einem Blindenhund gelernt hatte, war er an seine alte Hochschule zurückgekehrt, das York College, und hatte noch einmal zu studieren angefangen – die ersten Schritte auf einem langen Weg zurück ins Leben. Doch seine Neuorientierung war wiederholt fast schon routinemäßig durch eine Stadtverwaltung behindert worden, die es irgendwie fertigbrachte, einen blinden Polizisten zu behandeln, als gäbe es derer Hunderte. Rechnungen von Fachärzten und Physiotherapeuten blieben manchmal monatelang unbezahlt, und wenn die Ärzte Cassidy eine Mahnung schickten, konnte der nicht anderes tun als sie an die Stadt zu verweisen. Anträge auf spezielle Hilfsmittel – wie etwa der
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