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Homicide

Homicide

Titel: Homicide Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: David Simon
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…«
    Ja, denkt Garvey, du kannst. Sicher kannst du uns alles sagen, was du über deinen Cousin Anthony weißt, bis ins kleinste Detail. Sprich über die Drogen, die er sich geballert hat, und die Drogen, die er verkaufte, und erzähl uns von dem Streit, den er letzten Abend mit einem Kunden hatte. Erzähl uns von dem Geld, das fehlte, sodass ihm sein Lieferant drohte, später mit ihm abzurechnen. Erzähl uns von den Mädchen, die er an der Nase herumführte, oder von deren Freunden, die ihm gedroht hatten, ihn umzulegen. Berichte uns, was man sich nach dem Mord auf der Straße erzählte, und vielleicht sagst du ja uns sogar den Namen des Kerls, der in einer Bar saß und mit der Tat prahlte. Uns kannst du alles sagen.
    »Darf ich … ehem … Ihnen eine Frage stellen?«
    Eine Frage? Natürlich. Du möchtest wahrscheinlich anonym bleiben. Mensch, solange du kein Augenzeuge oder so was bist, kannst du sogar synonym bleiben, wenn es unbedingt sein muss. Wir sind deine Freunde. Wir haben dich gern. Wir nehmen dich mit zu uns und bewirten dich mit Kaffee und Donuts. Wir sind doch Cops. Uns kannst du dein Herz ausschütten. Erzähl uns alles.
    »Was denn?«, fragt McAllister.
    »Was Sie uns da eben gesagt haben …«
    »Ja?«
    »Was Sie da eben gesagt haben, soll das heißen, dass mein Cousin Anthony tot ist?«
    Garvey schaut zu McAllister, und McAllister schaut auf seine Schuhe, um nicht laut loszulachen.
    »Ehm, ja«, antwortet McAllister. »Seine Verletzungen waren leider tödlich. Wir haben da drinnen doch bereits darüber gesprochen.«
    »Mist«, meint der Cousin ehrlich verwundert.
    »Gibt es sonst noch was, was Sie uns sagen wollen?«
    »Nein«, antwortet der Cousin. »Eigentlich nicht.«
    »Tja, mein Beileid noch mal.«
    »Danke.«
    »Wir melden uns.«
    »Ist gut.«
    Das war’s. Aus und vorbei. Seine wahnsinnige Serie – zehn Fälle in Folge, angefangen mit Lena Lucas und dem alten Booker im Februar. Mit jeder Faser seines Seins weiß Garvey, dass die Intelligenzbestie, die ihm da bis vor die Haustür nachgelaufen ist, nichts anderes war als ein Bote – eine wandelnde, sprechende Mahnung an all das, was für einen Mordermittler die Realität ist.
    Der Auftritt des zurückgebliebenen Cousins, so unbeholfen und begriffsstutzig er auch wirkte, bestätigte Garvey alle Regeln ihres Berufs. Er gibt keinen Verdächtigen, und daher ist sein Opfer natürlich seinen Verletzungen erlegen. Ohne Verdächtigen wird aller Wahrscheinlichkeit nach auch die Spurensicherung nichts zutage fördern. Wenn Garvey irgendwann mal einen Zeugen auftreiben kann, wird der natürlich lügen, weil alle lügen. Und sollte er einmal einen Verdächtigen ermitteln, wird der gute Mann zweifellos im Vernehmungsraum einschlafen. Sofern es dieser schwache Fall auch nur in die Nähe eines Geschworenengerichts schafft, wird es jeden Zweifel für begründet halten. Vor allem aber: Es ist gut, wenn man gut ist, aber besser, man hat Glück.
    Der Volltrottel auf der Veranda ist unverkennbar ein Orakel, eine Mahnung, dass die Regeln nach wie vor gelten – selbst für jemanden wie Rich Garvey. Dass er zehn Tage später einen neuen Drogenmord bekommt, diesmal auf der East Side, und er kurz darauf die Tür eines Hauses einschlägt, um den Schützen unter den bunten Lichtern eines geschmückten Weihnachtsbaums zu ergreifen, ändert daran nichts. Und auch nicht, dass er im nächsten Jahr so erfolgreich sein wird wie nie zuvor, ändert daran nichts. Jetzt, in diesem Moment, als er Anthony Morris’ Cousin wieder ins Haus schlüpfen sieht, weiß er mit der Gewissheit eines wahren Gläubigen, dass sie in diesem Fall keine weiteren Information bekommen werden – keinen Anruf eines Informanten, keine Petzerei aus dem Stadtgefängnis, kein Getuschel auf den Straßen des Western. Dieser Fall wird niemals Schwarz werden, sondern noch offen sein, wenn Garvey schon längst seine Pension bezieht.
    »Hat es dieses Gespräch wirklich gegeben, Mac?«, fragt er lachend,als sie von ihrem Ausflug ins Büro zurückkehren. »Oder habe ich es nur geträumt?«
    »Nein, nein«, erwidert McAllister. »Das musst du geträumt haben. Vergiss es.«
    »Dieh-tectiff«, sagt Garvey in einer schlechten Imitation, »Soll das etwa heißen, dass mein Cousin tot ist?«
    McAllister lacht.
    »Der nächste Fall, bitte!«, meint Garvey.
    Ein jeder strebt in seiner Arbeit nach dem trügerischen, schwer zu greifenden Ziel der Vollkommenheit, einem Ziel, das immer wieder mit den Realitäten des

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