Homicide
gewesen, als sie sich zunächst auf den Fish Man konzentrierten, und hatte Landsmans Ansicht geteilt, dass der Mörder im selben Block der Newington wohnen musste. Er hatte es richtig gefunden, sich den alten Säufer von der anderen Straßenseite vorzuknöpfen. Das hatte alles Hand und Fuß. Jay und Harry verstanden eben etwas von ihrem Job, was man auch sonst über sie sagen mochte.
Monate später macht sich Pellegrini Vorwürfe, dass er so unentschlossen gewesen war. Die Gedanken, die ihn schon quälten, als er neben der Leiche kniete – dass er den Fall nicht richtig im Griff hat –, spuken ihm jetzt wieder im Kopf herum. Latonya Wallace ist ein Red Ball, und bei einem Red Ball ist wohl oder übel die ganze Truppe auf den Beinen. Landsman, Edgerton, Garvey, McAllister, Eddie Brown – alle sind sie dabei, alle fiebern danach, die heiße Spur zu finden, die sie zu dem Kindermörder führt. Doch so sehr sie sich auch reinknien, am Ende wird weder der Name Landsmans, noch der Edgertons oder Garveys auf der Akte stehen.
In einem Punkt liegt Landsman völlig richtig: Pellegrini ist erschöpft. Alle sind sie erschöpft. Als sie in dieser Nacht, am fünften Tag der Ermittlungen, um drei Uhr morgens aus dem Büro schleichen, wissen sie, dass sie in fünf Stunden wiederkommen werden und dass es noch ewig weitergehen kann mit den Sechzehn- und Zwanzigstundenschichten, die sie seit Donnerstag schieben. Wie lange werden sie das durchhalten? Pellegrini hat bereits Ringe unter den Augen. Das bisschen Schlaf, das der Detective abbekommt, wird noch durch die häufigen nächtlichen Lebensäußerungen seines zweiten, gerade drei Monate alt gewordenen Sohns unterbrochen. Landsman, der zu den Polizisten in Zivil gehört, die nie viel Wert auf ihr Äußeres legten, rasiert sich nur noch jeden zweiten Tag, und während er anfangs noch einSakko trug, dann einen Wollpullover, ist er nun bei Lederjacke und Jeans angekommen.
»He!, Jaybird«, begrüßt McLarney Landsman am nächsten Morgen, »du siehst ziemlich fertig aus.«
»Mir geht’s prächtig.«
»Wie läuft’s? Gibt’s was Neues?«
»Wir werden den Fall schon knacken.«
Dabei gibt es nicht viel Anlass zu Optimismus. Der rote Ordner mit der Nummer 88021, der auf Pellegrinis Schreibtisch liegt, ist inzwischen prall gefüllt mit Untersuchungsberichten, Auszügen aus dem Strafregister, Lageberichten, Formularen der Spurensicherung und handgeschriebenen Aussagen. Die Detectives haben den gesamten Block rund um den Fundort der Leiche abgeklappert und beginnen, ihre Arbeit auf die benachbarten Blocks auszudehnen. Die meisten Personen, die beim ersten Durchgang wegen ihrer kriminellen Vergangenheit genauer unter die Lupe genommen wurden, sind bereits aus dem Kreis der Verdächtigen ausgeschieden. Andere Detectives und zur Verstärkung herangezogene Ermittler gehen jedem Hinweise über männliche Erwachsene nach, die ein Mädchen unter fünfzehn auch nur mal angeschaut haben. Und obwohl mehrere telefonische Tipps eingehen – Landsman selbst bringt einen halben Tag damit zu, einen geistig Behinderten zu überprüfen, den eine Mutter in Reservoir Hill genannt hat –, meldet sich niemand, der das Mädchen auf dem Heimweg von der Bücherei gesehen hat. Der Fish Man ist für den Mittwoch, den entscheidenden Tag, aus dem Schneider. Und der alte Säufer ist tatsächlich nur ein alter Säufer. Und das Schlimmste, so Landsman, sie haben immer noch nicht den eigentlichen Tatort gefunden.
»Deshalb kommen wir nicht weiter«, sagt Landsman. »Er weiß mehr als wir.«
Auch Edgerton glaubt, dass ihre Chancen schlecht stehen.
Am Dienstag, am Tag, nachdem sie den alten Säufer aufgescheucht hatten, fährt Edgerton zu einer aus roten Backsteinen errichteten Baptistenkirche in der oberen Park Avenue. Langsam schiebt er sich in der überheizten Kirche durch die dicht gedrängte Menge. Der kleine, mattweiße Sarg mit den goldenen Beschlägen steht ganz vorn im Mittelschiff. Der Detective arbeitet sich bis dorthin durch, verharrt einen Augenblick,berührt den Sarg mit der Hand und wendet sich zu den Trauernden in der ersten Reihe um. Er ergreift die Hand der Mutter und flüstert ihr mit gesenktem Kopf zu: »Wenn Sie heute Abend beten, sprechen Sie bitte auch ein Gebet für uns. Wir können es brauchen.«
Doch die Frau blickt ihn nur mit stumpfen, leeren Augen an. Sie nickt abwesend, lässt den Blick kurz über den Detective gleiten, starrt dann aber gleich wieder auf das Blumenarrangement vor
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