Homicide
zum ersten Mal einen Hoffnungsschimmer, und da kommt die Knalltüte Roger Twigg, das Polizeireporterurgestein der Morgenzeitung, und posaunt alles auf der Frontseite des Lokalteils aus. Echt goldig. Zwei Monate lang will im ganzen Viertel rund um die Fulton und Monroe niemand etwas von dem Mord an John Scott gehört und gesehen haben. Dann, nach einer weiteren Woche, gräbt Worden endlich doch einen maulfaulen Zeugen aus – möglicherweise sogar einen Augenzeugen –, den er der Grand Jury präsentieren kann. Doch bevor die Ermittler dem Mann richtig einheizen und ihn unter Androhung einer Anklage wegen Beihilfe zum Mord zum Auspacken bewegen können, kommt die
Baltimore Sun
daher und erklärt ihn zum Tatverdächtigen. Jetzt wird es verdammt schwierig werden, den Kerl vor die Grand Jury zu bringen, denn wenn er die Zeitung liest – das heißt, wenn sein Anwalt sie liest –, wird er vorsichtshalber den fünften Verfassungszusatz bemühen und sich auf sein Schweigerrecht berufen.
Twigg, was bist du bloß für ein Arsch, denkt Worden und hört zu, wie D’Addario die Fernschreiben des Tages abhaspelt. Twigg, jetzt hast du mir aber echt eine reingewürgt.
Dass Worden überhaupt einen Zeugen präsentieren konnte, ist nur dem Umstand zu verdanken, dass er hart an dem Fall gearbeitet hat. Seit der Entdeckung der Leiche von John Scott Anfang Dezember hater vier voneinander unabhängige Tür-zu-Tür-Befragungen im Gebiet rund um den 800er-Block der Monroe Street durchgeführt. Die drei ersten haben wenig ergeben. Erst bei der vierten erfuhr er von einem Bewohner den Namen eines möglichen Augenzeugen des 800er-Blocks, der angeblich seinen Wagen in der Monroe Street unweit der Einmündung des Wegs geparkt und mehreren Personen erzählt hatte, dass er vor dem Haus war, als die Schüsse fielen. Unter der Adresse fand Worden einen Arbeiter mittleren Alters, der mit seiner Freundin und seiner betagten Mutter zusammen wohnte. Der Mann erwies sich als ängstlich und wenig kooperativ. Er bestritt, vor der Tür gewesen zu sein, als sich der Vorfall ereignete, gab aber zu, einen Schuss gehört und daraufhin aus dem Fenster einen Polizeiwagen ohne Blaulicht vom 800er-Block wegfahren gesehen zu haben. Anschließend sei ein zweites Polizeiauto von der Lafayette in die Monroe Street eingebogen und habe nahe der Einmündung des Wegs angehalten, der dort hinter die Häuser führe.
Nachdem ein Großaufgebot an Polizei aufgelaufen sei, habe er seinen Sohn angerufen und ihm alles erzählt. Worden befragte anschließend auch den Sohn, der sich an den Anruf erinnerte und herausstrich, dass sein Vater den Vorfall sehr konkret geschildert hatte: Er habe gesehen, wie auf dem Weg direkt gegenüber seinem Haus ein Polizist einen Mann erschossen habe.
Worden ging zu dem Zeugen zurück und konfrontierte ihn mit der Aussage seines Sohnes. Nein, erwiderte der Mann, das habe er nie gesagt. Er blieb bei seiner ersten Aussage, in der von zwei Polizeiautos die Rede war.
Worden hatte seinen frischgebackenen Zeugen im Verdacht, deutlich mehr als die Ankunft und das Wegfahren eines Streifenwagens gesehen zu haben. Der Detective hatte zwei mögliche Erklärungen für die geringe Auskunftsfreude des Mannes. Die erste war, dass der Zeuge Angst hatte, in einem Mordprozess gegen einen Polizisten auszusagen. Die zweite, dass er gar keinen Streifenwagen ohne Blaulicht aus der Monroe Street davonfahren gesehen hatte, sondern Zeuge einer Konfrontation zwischen John Scott und einer unbekannten Person geworden war, einem Nachbarn oder Freund vielleicht, den er decken wollte. Möglich war aber auch, dass der Zeuge, der wenige Minuten vor derSchießerei sein Auto an der Einmündung des Wegs abgestellt hatte, selbst in die Angelegenheit verwickelt war.
Rein sachlich gesehen stimmte also, was in der Zeitung stand: Der Zeuge gehörte möglicherweise selbst zum Kreis der Verdächtigen. Roger Twigg weiß jedoch nicht – oder seine Quellen haben es ihm nicht erzählt – dass dieser Zeuge nicht alles ist, was sie haben. Es gibt noch andere Anhaltspunkte, die Wordens Überlegungen wieder in die entgegengesetzte Richtung, zurück zur Polizei, lenken.
Es sind nicht nur die Hemdknöpfe, die am Rand des Wegs gefunden wurden. Es ist auch nicht die Tatsache, dass zu viele der Polizisten, die an der Sache beteiligt waren, widersprüchliche Darstellungen abgeben. Der am meisten irritierende Hinweis in Wordens Fallakte ist die Kopie eines Mitschnitts des Funkverkehrs des Central
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