Homicide
sich. Edgerton tritt zur Seite und stellt sich mit dem Rücken vor die Wand, die Augen geschlossen, wenn auch mehr aus Müdigkeit als aus religiösen Gefühlen. Er lauscht der tiefen Gospelstimme des jungen Predigers: »… wandere ich durch das Tal der Schatten … Da hörte ich eine laute Stimme vom Thron her rufen … Der Tod wird nicht mehr sein, keine Trauer, keine Klage, keine Mühsal. Denn was früher war, ist vergangen.«
Er hört auch dem Bürgermeister zu, der fahrig durch seine Rede stolpert: »Der Familie und den Freunden … gilt mein, äh … furchtbare Tragödie für die, äh, gesamte Stadt … Latonya war das Kind von ganz Baltimore.«
Ebenso der Senator:
»… Armut, Unwissen und Gier … all dies kann ein Kind töten … sie war uns allen ein Engel, der Engel von Reservoir Hill.«
Er lauscht den kleinen Details eines Kinderlebens: »… besuchte diese Schule seit ihrem dritten Lebensjahr, sie hat fast nie gefehlt … war im Schülerrat, im Schulchor, nahm Tanzunterricht, engagierte sich in der Majorettengruppe … Latonyas Traum war es, eine berühmte Tänzerin zu werden.«
Er lauscht einer Totenrede voller Phrasen, die noch nie so hohl und abgedroschen geklungen haben: »Sie ist nun heimgekehrt … denn wir werden nicht an jenen gemessen, die leichten Fußes, noch an jenen, die voller Kräfte sind. Unser Maß sind die, die ausharren.«
Als der weiße Sarg hinausgetragen wird, schließt sich Edgerton dem Zug an. Aber er hat seine Arbeit schon wieder aufgenommen, schnappt sich einen weiß behandschuhten Kirchendiener und bittet ihn um eine Kopie des Kondolenzbuchs. Aus einem Überwachungswagen, der auf der anderen Seite Park Avenue steht, fotografiert ein Techniker diskret die sich zerstreuende Menge. Offenbar hofft man, dass der Mörder, geplagt von seinem Gewissen, das Risiko eingeht, dort aufzutauchen. Edgertonsteht am Fuß der Kirchentreppe und mustert aufmerksam die Gesichter der Männer, während sich die Trauergemeinde langsam auflöst.
»Nicht die, die leichten Fußes sind, sondern die, die ausharren«, sagt er und steckt sich eine Zigarette an. »Das hat mir gefallen … Hoffe, er hat uns damit gemeint.«
Edgerton wartet, bis der letzte Trauergast die Kirche verlassen hat, bevor er zu seinem Wagen geht.
Montag, 8. Februar
Donald Worden sitzt im Kaffeeraum und überfliegt den Lokalteil der Zeitung. Mit einem Ohr lauscht er auf die Besprechung draußen im Büro. Still an seinem Kaffee nippend liest er die Schlagzeile:
T ÄTER BEI V ERFOLGUNGSJAGD ERSCHOSSEN – S EIT D EZEMBER KEINE HEISSE S PUR – P OLIZEI NICHT LÄNGER IM F OKUS DER E RMITTLUNGEN
Der Artikel beginnt mit der Frage:
Wer tötete John Randolph Scott junior?
Diese Frage haben die Detectives des Morddezernats bereits einige Hundert Mal gestellt seit dem 7. Dezember, an dem Mr. Scott, 22, der sich durch Flucht zu Fuß dem Zugriff der Polizei entziehen wollte, von hinten erschossen wurde.
Mehrere Wochen lang konzentrierten sich die Ermittlungen auf Polizisten, die sich im Umfeld des Tatorts aufhielten. Der junge Mann war geflüchtet, nachdem er von der Polizei mit einem gestohlenen Wagen gestellt worden war. Mr. Scott wurde bei der Verfolgung auf Höhe des 700er-Blocks der Monroe Street niedergeschossen.
Doch nun scheinen die Ermittler einen anderen Tatverdächtigen ins Visier genommen zu haben – einen Bewohner des Viertels, dessen Mutter, Freundin und Sohn laut Angaben der Polizei bereits vor der Grand Jury der Stadt ausgesagt haben.
Worden lässt seine Augen langsam die Spalte hinunterwandern und blättert zur Fortsetzung auf Seite 2D. Es kommt noch schlimmer:
Aus Polizeikreisen verlautet, dass ein Mann, der in der Nähe der Monroe Street wohnt, ausführlich zu dem Mord befragt wurde … Derselbe Mann, auf dessen Spur die Polizei durch den Hinweis eines Bewohners aus dem Viertel kam, hatte den Ermittlern gesagt, er habe am Morgen, als die Schüsse fielen, einen Polizeiwagen mit hoher Geschwindigkeit, aber ohne Blaulicht aus der Monroe Street wegfahren sehen.
Bislang konnte diese Beobachtung nicht von anderer Seite bestätigt werden, so unsere Quelle. Inzwischen glauben die Ermittler, dass der Mann selbst in die Schießerei verwickelt war – oder zumindest mehr weiß, als er bislang preisgegeben hat.
Worden trinkt seinen Becher aus und reicht die Zeitung Rick James, seinem Partner, der sie mit einem gequälten Augenaufschlag entgegennimmt.
Na prima. Nach zwei Monaten haben sie in diesem vermaledeiten Fall
Weitere Kostenlose Bücher