Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
ist schon spät.“
„Weißt du, was mich derzeit am meisten beschäftigt?“
Brian schaute ihn von der Seite an. Tobias vermied den direkten Augenkontakt, wie immer, wenn er sich unsicher fühlte. Bevor Brian etwas erwidern konnte, begann Tobias:
„Seit ich richtig denken kann, ich meine, seit ich mit Computern arbeite, ist immer ein Teil von mir“, er tippte sich an den Kopf, „im Computer, im Netz drin. Ich dachte immer, das ist bei allen anderen auch so und ich wäre nur ein wenig pragmatischer, schlauer. Ich hab nicht studiert. Ich weiß nicht, was ein Hash-Algorithmus ist, das habe ich nie gelernt. Aber ich kann die besten Hash-Algorithmen aus dem Stand heraus entwickeln. Wenn ich nicht mit einem Computer verbunden bin, nicht im Netz unterwegs bin, dann bin ich irgendwie …“ Er suchte nach dem richtigen Begriff.
„Rastlos? Einsam? Heimatlos? Unvollständig? Meinst du das?“, fragte Brian.
„Genau, ja, das passt alles. In den letzten Wochen habe ich das nicht gemacht, weil ich dein Vertrauen nicht verlieren will, aber ich muss es tun und ich werde es tun.“
„Was meinst du damit? Was wirst du tun?“
„Ich werde mich ab sofort wieder durch jedes Computernetzwerk, durch jede Datenbank bewegen, zu der ich Zugang habe. Ich laufe durch jeden Firewall, durch jedes Schutzsystem, wie du hier durch die Kirche. Mich kann und wird nichts aufhalten, verstehst du?“
Tobias stand auf und fing plötzlich an zu lachen, er breitete die Arme aus und drehte sich im Kreis. Für ihn war es ein befreiendes Lachen. Brian dagegen lief eine Gänsehaut über den Rücken.
Mit tiefer Stimme rief Tobias hoch in die Kuppel: „Computer und der Computer Gesetz waren in Nacht gehüllt. Es werde Tobias! Und das Netz ward lichterfüllt!“
Tobias stieg aus dem Auto und winkte Brian zu. Sie waren von der Westminster Abbey zu Tobias’ Wohnung gefahren und hatten kaum noch ein Wort gewechselt. Tobias war gelöst und nachdenklich. Brian hatte nicht gewusst, was er nach Tobias’ Auftritt in der Kirche sagen sollte. Er hob die Hand zum Abschied, griff gleichzeitig zum Handy und wählte Mary Taydons Nummer.
„Wir haben ein Problem“, fing er grußlos an. Er berichtete und spürte, wie gleichzeitig die Anspannung nachließ. Er war froh, dass Mary abgeklärt und analytisch reagierte.
„Gut, das hört sich jetzt alles sehr dramatisch an. Lass mich kurz zusammenfassen. Wir haben ihm erklärt, dass er außergewöhnlich ist. Wir haben mit ihm ein paar Probleme im Handumdrehen gelöst, an denen eine Reihe von Experten gescheitert ist, und wir rufen ständig laut Bravo.
Er hat niemanden, mit dem er sich messen kann, zumindest nach seinen Maßstäben, und es fehlen Leute, an denen er sich orientieren kann. Und dann trifft er auf Newton und dieses pathetische Gedicht von Alexander Pope, außerdem auf eine Reihe weiterer Genies ihrer Zeit. Er hat jetzt ein Idol, ein Vorbild gefunden, und was dich erschreckt, ist, dass er sich auf die gleiche Ebene wie Newton stellt?“
„Nein, das war es nicht. Sondern die ganze Situation und wie er da herumgetanzt ist. Und du darfst nicht vergessen, er hat offen gesagt, dass er ab sofort durch alle – also auch unsere! – Computersysteme spazieren wird. Ich glaube ihm, dass ihm nichts verborgen bleibt, wenn er danach sucht.“
„Brian, umso wichtiger ist es, dass du ihn unter Kontrolle hast und ihn steuerst. Auch ein Tobias Feist kann nicht alle Daten auf dieser Welt lesen. Er kann nicht überall gleichzeitig sein und er wird sich immer nur das holen, was ihn gerade interessiert und beschäftigt. Und seine Interessen sind, wie wir ja wissen, sehr stark eingeschränkt.“
„Du magst recht haben, Mary, aber so richtig beruhigt mich das nicht. Was ist, wenn er anfängt, Gott zu spielen? Und zum Beispiel irgendwelche Datenbanken, meinetwegen die der Nationalbank, zerstört?“
„Das könnte er?“
„Nach dem, was ich in den letzten Wochen gesehen habe, traue ich ihm technisch alles zu.“
„Aber er wird es nicht tun. Dann müsste er schon einen triftigen Grund haben. Nein, da müsste schon etwas passieren, was sein Wertesystem ganz gewaltig erschüttert. Da müsste er fast den Glauben an die Menschheit verlieren. Glaub mir, er vertraut dir, und solange du ihn führst, wird er nicht aus dem Ruder laufen. Aber im Endeffekt musst du die Interessen abwägen.“
„Wie meinst du das, Mary?“
„Du bist der Soldat. Tobias ist eine Waffe. Wenn ich dich richtig verstanden habe, ist er
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