Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)

Brian.
    „ Halleluja , ich glaube, das bekannteste Stück von Händel. Seit damals in der Westminster Abbey bin ich ein Fan von Händel. Ein Geschenk, das du mir damals gemacht hast, und das ich erst später zu schätzen wusste. Ich möchte, dass du es bei meiner Beerdigung spielen lässt.“
    „Na, das wird ja wohl noch einige Zeit dauern, mit Sicherheit beiße ich eher ins Gras als du. Immerhin bin ich siebzehn Jahre älter.“
    „Dann musst du dich aber beeilen, Brian, du hast nur noch wenige Tage Zeit, wenn du schneller sein willst.“ Tobias schaute ihn mit seinen müden Augen einen Moment direkt an. Keine Frage, er meinte es ernst.
    Mit einer solchen Gesprächseröffnung hatte Brian nicht gerechnet, sie passte so gar nicht zur Vorgehensweise, die er sich überlegt hatte. Ohne dass er etwas dagegen machen konnte, schossen ihm die Tränen in die Augen.
    Tobias bemerkte die Tränen nicht, oder er ließ es sich nicht anmerken. „Du willst wissen, warum? Warum ich die Menschheit zurück in eine computerlose Zeit befördert habe?“
    Brian wischte sich beiläufig mit dem Ärmel über die Augen. Er wollte Tobias fragen, wieso er sich sicher sei, dass er so bald sterben würde. Aber er ließ es bleiben.
    „Tobias, es gibt auf der ganzen Welt niemanden, der besser weiß als du, wie abhängig die Menschheit von Computersystemen ist. Es funktioniert quasi nichts mehr ohne Computer. Die Energie- und Nahrungsversorgung. Es sterben Tausende, und ihnen werden noch Hunderttausende folgen.“
    „Meine Prognosen gehen im besten Falle von einer Reduktion der aktuellen Weltbevölkerung von derzeit 8,5 Milliarden Menschen auf etwa 8,1 Milliarden aus. Der Worst Case geht von rund 1,3 Milliarden Opfern aus. Es kommt darauf an, was in den städtischen Ballungsgebieten geschieht, dort wird es die größten Verluste geben.“ Es waren die emotionslosen Worte eines Analytikers.
    „Wahnsinn, reiner Wahnsinn. Ist das dein Ziel, Tobias? Willst du als der größte Massenmörder aller Zeiten in die Geschichte eingehen?“ Brian sprang erregt von seinem Stuhl auf.
    „Die Menschheit war auf dem falschen Weg, Brian. Es ist Zeit für eine Pause. Die Menschen haben ihre Freiheit verloren. Es gibt den freien Menschen nicht mehr. Jedes Individuum ist zum Datenobjekt verkommen. Sieh dich an, alle zehn Minuten greifst du dir an den linken Unterarm, du bist wie ein Süchtiger auf Entzug. Dir fehlt dein myCom, dir fehlt es, online zu sein, dir fehlt die Informationsflut, das Gefühl, dazuzugehören. Du fühlst dich einsam und verloren, weil du keine sozialen Kontakte mehr hast. Aber in Wahrheit warst du vorher einsam, ein Einsamer unter Millionen anderen Einsamen.“ Tobias’ Stimme bebte vor Zorn. „Dabei gehörst du noch zur älteren Generation. Die Jüngeren, die nichts anderes kennen, stecken jetzt alle in einer kolossalen Sinnkrise, die drehen durch. Aber das stört mich nicht …“
    „Und was stört das Jahrtausendgenie?“ Es war Brian einfach so rausgerutscht, obwohl er sich vorgenommen hatte, Tobias nicht zu provozieren. Tobias schien den Faden verloren zu haben. Doch schließlich fuhr er fort.
    „Mich stört, dass wir angefangen haben, Gott zu spielen. Der Mensch darf nicht mehr das sein, was er ist. Ein natürliches Individuum mit all seinen Stärken, Fähigkeiten, aber auch Fehlern. Heute entscheidet dein genetischer Code, eine Sequenz auf deiner DNA, ob du leben darfst und ob du förderungswürdig bist. Ob du die beste medizinische Versorgung bekommst, ob du ein Organ kaufen kannst oder ob dir lediglich ein schmerzloser Freitod zusteht. Das alles spielt nur dann keine Rolle, wenn du so reich bist, dass du dich freikaufen kannst.“
    Brian wusste, dass er Tobias jetzt nicht unterbrechen durfte, er musste warten, er presste die Lippen zusammen und setzte sich wieder.
    „Eine falsche DNA-Sequenz, eine Erbkrankheit, früh genug entdeckt, und das Kind wird abgetrieben. Kommt das Kind zu Welt, fällt es durch das Versicherungssystem, seine Familie wird in den Ruin getrieben. Der Freitod ist oft die einzige Möglichkeit.
    Eine verdächtige DNA-Sequenz, die dir eine ungünstige Prognose wie Bluthochdruck, Gefäßschwäche, eine Tendenz zu Diabetes, zu Demenz und weiß der Teufel wozu stellt, und du hast ein dickes Problem.
    Deine Berufschancen sind eingeschränkt, du kommst in die niedrigste Versicherungskategorie und deine Versicherungsprämien steigen. Du hast einen Makel in deiner Datenbank und trägst ihn selbst in deinem PID