Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
Anstand zu verlieren.“
Brian schwieg. Mary kannte ihn zu gut, ihre Einschätzung war richtig. Es gab diese Nächte, in denen er aufwachte und nicht mehr einschlafen konnte. Dann dachte er an die Männer und Frauen, die bei Einsätzen, die er in den letzten dreißig Jahren befohlen hatte, ihr Leben verloren hatten. Er kannte von jedem Einzelnen den Namen und den Dienstrang, von den meisten wusste er noch immer, wie sie gestorben waren.
Das Abendessen nahmen sie schweigend ein. Tobias machte einen abwesenden Eindruck. Er trug eine metallene Haube und erinnerte Brian damit an einen Film, in dem ein Cyborg die Hauptrolle hatte. Er aß rein mechanisch, mithilfe von James.
So war er immer, wenn ihn etwas beschäftigte, dann ignorierte er seine Umgebung vollständig – um dann von einer Minute auf die andere wieder aufzutauchen.
Brian hatte ihn früher oft so erlebt, beim ersten Mal hatte er sogar befürchtet, dass Tobias dehydrieren könnte, da er tagelang scheinbar weder aß noch trank. Allerdings hatte sich dieses Problem relativ einfach gelöst, als er Tobias’ Vorliebe für Tee, Kekse, Pizza und Mikrowellenessen entdeckte. Man musste Essen und Getränke nur in greifbare Nähe stellen, Tobias bediente sich dann automatisch.
James räumte gerade das Gedeck vom Hauptgang ab, als Tobias plötzlich sagte: „Und jetzt das Dessert, James, und mache bitte das Licht aus!“
Mary warf Brian einen fragenden Blick zu, er zuckte mit den Schultern und wollte etwas sagen, als er Funken aufblitzen sah. James trug einen Kuchen herein, der mit brennenden Wunderkerzen gespickt war.
„Happy birthday to you, happy birthday to you, happy birthday, lieber Brian, happy birthday to you.“
James hatte eine angenehme Gesangsstimme. Tobias sang zwar mit lauter Stimme, traf aber nicht ganz die Melodie. Auch Mary fiel geistesgegenwärtig in den Refrain ein. Brian konnte nicht anders, er war gerührt. Er hatte seinen Geburtstag schon wieder vergessen und dass Tobias an ihn dachte … damit hatte er unter diesen Umständen nicht gerechnet.
Der Kuchen stand inzwischen auf dem Tisch, James entfernte die Wunderkerzen. Die Zahl 66 war mit einem rosafarbenen Zuckerguss aufgetragen. „Ahh, eine schöne Torte, James, Sarah hat sich wieder selbst übertroffen“, sagte Tobias.
James’ Frau Sarah war gleichzeitig die Köchin und Haushälterin. Brian und Mary hatten sie und die beiden elfjährigen Zwillinge Ann und Andrew am frühen Nachmittag kurz kennengelernt.
„Herzlichen Glückwunsch nachträglich zum Geburtstag, Brian. Ich wollte dich gestern Abend nicht gleich damit überfallen.“
„Danke, Tobias, ich bin völlig überrascht.“
Aus den Augenwinkeln sah er Mary, die ihn fixierte. Er kannte diesen Blick, er war eine einzige Aufforderung, endlich etwas zu tun. James hatte unterdessen den Kuchen aufgeschnitten und servierte jedem ein Stück.
„Tobias, darf ich dich was Persönliches fragen, ich meine: von Freund zu Freund?“
„Von Freund zu Freund, so wie damals die Sache mit dem zweiten Falklandkrieg?“ Tobias hielt seinen Blick. Brian hatte das Gefühl, in einen See von Traurigkeit zu blicken. Tobias sah müde aus. Schlagartig hatte Brian das Bild seines Vaters auf dem Sterbebett vor Augen. Er war friedlich, nach einem erfüllten Leben, gestorben und hatte, als es auf das Ende zuging, die gleiche Müdigkeit in den Augen gehabt. Brian erschrak und zwang sich zurück in die Gegenwart.
„Ja, so wie damals“, sagte er.
Er spürte Marys fragenden Blick, er musste sie gar nicht ansehen. Sie war jedoch klug genug, sich im Hintergrund zu halten und diesen Moment nicht zu stören.
„Warum, Tobias, warum? Ich will es einfach nur verstehen?“
„Später, Brian. Komm nachher in mein Arbeitszimmer, da habe ich auch noch mein Geschenk für dich.“ Tobias drehte sich weg. Und beendete damit den Moment, der sie verbunden hatte.
Tobias verließ das Zimmer. Brian wusste aus Erfahrung, dass er nicht gleich hinter ihm herstürzen sollte, auch wenn es ihm unter den Nägeln brannte, mehr zu erfahren. Er würde ihm eine Stunde Zeit geben und ihn dann in seinem Arbeitszimmer aufsuchen.
„Was meinte er vorhin mit: wie damals nach dem zweiten Falklandkrieg?“, fragte Mary.
„Ist das wichtig?“
„Alles, was uns näher an Tobias heranbringt, ist wichtig. Er hat sich seit dem letzten längeren Gespräch, das ich mit ihm führte, das muss so gegen Ende 2032 gewesen sein, verändert.“
„Ja, das war wegen des letzten Gutachtens,
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