Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
tagtäglich mit dir herum. Die Google- und Facebook-Profile zu Anfang dieses Jahrhunderts waren harmlos dagegen. Es zählt nur noch der Datensatz, nicht mehr der Mensch.
Und wir maßen uns an, in die genetischen Strukturen von Lebewesen einzugreifen: bei niedrigen Organismen, bei Pflanzen, bei Tieren und in den letzten Jahrzehnten auch beim Menschen.“
Brian hatte zu tun, um sich zu beherrschen, das merkte endlich auch Tobias. Doch er sprach ohne Pause weiter.
„Ja, ja, ich weiß, es gibt für alles gute Gründe. Alles zum Wohle und Fortschritt der Menschheit. Genmanipuliertes Getreide benötigt weniger Dünger, ist resistenter und extrem ertragsreich. Das Fleisch für den täglichen Hamburger kommt nicht mehr von der Weide, sondern aus einem Chromstahltank – eine optimierte Proteinquelle, die ohne Massentierhaltung auskommt. Es gibt Hunderte solcher Beispiele. Das ist alles noch akzeptabel. Aber der Mensch. Brian, sie haben angefangen, den optimalen Menschen zu designen! Den Homo ambrosius, den unsterblichen Mensch. Das darf nicht sein. Das ist der Grund, warum ich alles gestoppt habe. Und das ist die Warnung und Botschaft, die ich hinterlasse.“
Tobias’ Kopf war rot vor Zorn. Die silberne Haube, die er immer noch trug, bildete einen bizarren Kontrast zu dem Rot, und seine Augen wirkten jetzt gar nicht mehr müde. In ihnen brannte ein Feuer.
„Beim Menschen? Tobias, du behauptest, wir manipulieren den genetischen Code, die DNA beim Menschen? Das stimmt nicht! Schließlich gibt es seit 2020 ein weltweit gültiges Moratorium! Alle Staaten der Welt haben sich dazu verpflichtet, es ist unter Strafe verboten, die menschliche Erbmasse zu verändern. Sollte es solche Fälle doch geben, dann höchstens einige wenige, irgendwo in einem kleinen Labor. Ganz sicher verwerflich und verabscheuenswert, aber garantiert harmlos.“
Tobias schüttelte den Kopf, doch Brian ließ ihn nicht zu Wort kommen.
„Die Stammzellenforschung, die gezielte Entwicklung von Gewebe und Organen aus körpereigenen Stammzellen, all das ist eindeutig geregelt und wird streng überwacht. Von jedem Mensch wird das Genom eingescannt und in Datenbanken abgelegt. Wenn es dort Auffälligkeiten gegeben hätte, wäre das aufgefallen.“
„Du hast recht, Brian, es wäre aufgefallen. Aber nur, wenn die Veränderungen die Bereiche der DNA betroffen hätten, die die eigentlichen Erbinformationen beinhalten. Aber die Manipulation erfolgt woanders, bei den Telomeren.
Bis zum 7. Juni habe ich fast eine Million Chimären identifiziert. Die älteste sechzehn Jahre, der jüngste vier Tage alt. Außerdem über 20.000 Schwangere, die eine Chimäre austragen. Und ich kann nicht ausschließen, dass es noch mehr gibt.“
„Chimären? Was meinst du damit. Oder wen?“
„Das sind Menschen, deren genetisches Material DNA von mehreren verschiedenen Spezies beinhaltet. Also nicht nur von Menschen, von einer menschlichen Mutter und einem menschlichen Vater, sondern auch von Tieren.
Und Brian, vermutlich weißt du nicht, dass seit Anfang dieses Jahres bei der UN ein Antrag liegt, das Moratorium von 2020 dem aktuellen Stand der Forschung anzupassen.“
Er hatte doch gewusst, dass etwas diese wahnsinnige Aktion ausgelöst haben musste. Und es musste schon längere Zeit zurückliegen, denn weltweit alle Computersysteme ausschalten und gezielt ausgewählte Datenbestände sichern, das schaffte auch ein Genie wie Tobias weder alleine noch in wenigen Wochen.
Seine Gedanken überschlugen sich. Was sollte er als Erstes fragen? Zudem griff Tobias sich eine der Hauben, ein deutliches Zeichen, dass für ihn das Gespräch dem Ende zuging.
„Tobias, kannst du mir erklären, welche Veränderungen man bei den Telomeren gemacht hat?“
Tobias schob die Haube wieder zurück und wandte sich Brian zu.
„Du weißt, was der T-Wert eines Menschen aussagt?“
„Ungefähr schon“, antwortete Brian unsicher.
„Die Telomere befinden sich an den Enden der Chromosomen. Sie sind Bestandteile der DNA, tragen aber keine Erbinformationen. Sie stabilisieren die Chromosomen und stellen damit unter anderem das korrekte Ablesen der Erbinformationen sicher. Nach jeder Zellteilung verkürzen sich die Telomere um ein Stück. Das geht solange, bis die Telomere zu kurz sind. Die Folge: Es gibt keine Zellteilung mehr und die Zelle stirbt schließlich. Aus diesem Grund ist unser Lebensalter beschränkt. Das ist so etwas wie eine innere Lebensuhr.“
Brian nickte, das kam ihm bekannt
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