Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
zuvor und auch das soziale Ungleichgewicht hatte sich positiv verändert. Immer mehr Menschen profitierten von den Entwicklungen.
Andererseits war der Mensch nicht mehr frei. Im Mutterleib wurde entschieden, ob der Fötus lebenswert war.
Der Umgang mit Kranken und Pflegebedürftigen, die nicht reich waren, war unmenschlich, man durfte im Prinzip weder krank noch alt werden. Die neuen Sozialgesetze waren menschenverachtend.
Rente gab es ab fünfundsiebzig, die durchschnittliche Lebenserwartung in den hochentwickelten Ländern war jedoch in den letzten zehn Jahren kontinuierlich zurückgegangen, sie lag bei siebenundsiebzig bei Männern und einundachtzig bei Frauen.
Die Anzahl der Menschen, die freiwillig und staatlich unterstützt aus dem Leben schieden, war hoch – eine Erklärung für den Rückgang der durchschnittlichen Lebenserwartung.
Jeder Mensch war auf einen Datensatz reduziert. Und mit Daten kannte Tobias sich aus – sie waren manipulierbar und man konnte sie jederzeit löschen.
Wer über die Daten eines Menschen verfügte, konnte auch über dessen Identität verfügen. Einige Daten im Genom verändern, und schon wurde die Person herabgestuft und kam für bestimmte Arbeitsstellen nicht mehr infrage. Manipulationen im Lebenslauf, Einträge zur Persönlichkeit konnten die Karriere positiv oder negativ beeinflussen.
Bei seiner Recherche stieß Tobias auf den ORGANICA-Konzern, den er längst aus den Augen verloren hatte. Er begriff, dass ORGANICA beim IMIAS-System und den PID-Chips die Hände gewaltig im Spiel hatte und damit Meister der Daten war.
Tobias hatte das Gefühl, eingreifen zu müssen. Der alte Groll regte sich wieder, aber er wusste nicht, was er tun sollte. Bis er auf die Idee kam, Confidence darauf anzusetzen. Er nannte das Projekt Quo vadis .
„Quo vadis, das passt“, sagte Brian. Die Szenerie wechselte gerade zum Garten des Hauses, Tobias stand dort und rührte sich nicht.
„Still, Brian, es geht weiter. Tobias und Confidence werden sicher reden, das wird uns einen Hinweis darauf geben, was Confidence kann.“
Brian sah zu Mary, wie sie mit dem HMD auf dem Kopf im Sessel saß und ins Leere starrte. Die Szene wirkte futuristisch, und etwas makaber. Er wischte die Gedanken beiseite und wandte sich Tobias zu.
Tobias stand im Garten seines Hauses und schaute in den Himmel. Die grauen Wolken jagten dahin, die ersten Oktoberstürme peitschten durchs Land. Der Wind trug ihm Worte und Lachen von Ann und Andrew zu, die auf dem Feld einen selbst gebauten Drachen fliegen ließen. Es war gar nicht mehr so selbstverständlich, Kinder im Freien spielen zu sehen, wie es Tobias noch aus seiner eigenen Kindheit kannte.
Mit dem myCom und dem Globalnet hatte sich das, was sich bereits mit der Vorgängertechnologie Smartphones und Internet verbreitete, endgültig durchgesetzt. Den Großteil ihrer Freizeit verbrachten die Menschen, auch die Kinder, in virtuellen Welten. Tobias bewunderte James und Sarah dafür, dass sie es schafften, ihren Kindern regelmäßig für einige Stunden am Tag ihr myCom wegzunehmen.
Heute Morgen hatte er zum ersten Mal James um Hilfe bitten müssen, er konnte sich seine Schuhe nicht alleine anziehen. Er war so verkrampft gewesen, dass er es einfach nicht schaffte, sich bis zu den Füßen zu beugen. James hatte die Zwillinge zu ihm geschickt. Ann und Andrew hatten ein Spiel daraus gemacht und ihm verschiedene Schuhe an- und ausgezogen, was für Kinder ihres Alters keine leichte Übung war. Tobias war geduldig und hatte über die gelegentlichen Wut- und Verzweiflungsausbrüche der Kinder gelächelt und die kleinsten Erfolge gelobt.
Jetzt, am Nachmittag, waren seine Muskeln entspannt und seine Gelenke gehorchten ihm wieder. Trotzdem fiel ihm das Laufen nicht gerade leicht. James hatte ihm vor einiger Zeit geraten, sich mehr zu bewegen, damit sich seine Beweglichkeit verbesserte. Das funktionierte wirklich, und so machte Tobias seitdem mindestens dreimal am Tag einen kleinen Spaziergang.
Über sein myCom stand er mittlerweile ständig mit Confidence in Verbindung, auch wenn er in London war. Es war bei Weitem nicht das Gleiche, wie wenn er hier war und das HMD trug, aber eine bessere Lösung gab es nicht.
In wenigen Stunden würde er nach London zurückfahren. Morgen Vormittag stand die Routineuntersuchung beim ärztlichen Dienst an und am Nachmittag hatte Brian für ihn einen Termin bei Mary Taydon vereinbart. Vermutlich brauchte Brian Mary Taydons Bericht, um Tobias’
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