Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
war.
Eine Versuchsreihe Jeongs im Jahre 2015 hatte das Ziel, die Lebenserwartung der Fadenwürmer von aktuell achtzig auf hundert Tage zu steigern, dafür manipulierten sie erfolgreich den Bereich des Genoms, der die Telomerase codierte – ein Enzym, das für die Wiederherstellung der Telomere verantwortlich war, indem es verlorene Bereiche wieder ersetzte. Bei menschlichen Zellen war dieses Enzym nur in den Stammzellen sowie in Krebszellen aktiv. Dort stellte es sicher, dass sich diese Zellen quasi endlos teilen konnten.
Die Forscher um Jeong bauten in das Genom des Fadenwurms eine DNA-Sequenz ein, die sie aus der DNA einer Mäusekrebszelle mit einer besonders aktiven Telomerase gewonnen hatten.
Damit gelang ihnen die Herstellung eines neuen, viel effektiveren Telomerasetyps, den sie LL-Telomerase nannten. Das LL stand für Long Life . Einzelne Fadenwürmer lebten damit sehr viel länger. Die ältesten Fadenwürmer wurden wie ein Staatsschatz in die Konzernzentrale der ORGANICA nach China gebracht.
Nach 2015 erforschten sie diese Genmanipulation intensiv. Die derart manipulierten Fadenwürmer wurden im Labor die Unsterblichen genannt. Ihre Telomerstruktur und -länge war identisch mit der natürlichen Grundform, doch bei den Unsterblichen wurde die Telomerlänge bei einer Zellteilung nie reduziert. Der natürliche Mechanismus zur Zellalterung war durch den neuen Telomerasetyp deaktiviert.
Professor Jeong gab den neuen Fadenwürmern den Artnamen Caenorhabditis elegans ambrosius murinae. Ambrosius für die Unsterblichen und murinae als Hinweis auf die eingebaute DNA-Sequenz der Maus. Er hätte gern auch ein Patent für das neue Lebewesen eingereicht, aber das verbot die Geheimhaltung.
Die Genmanipulation schien den Fadenwürmern gut zu bekommen: Sie waren im Schnitt zehn Prozent größer als ihre normalen Artgenossen, gediehen prächtig und pflanzten sich erfolgreich fort.
Dabei gab es eine Überraschung: Die manipulierten Gene wurden weitervererbt. Einfache Kreuzungsversuche zeigten, dass Nachkommen von zwei Unsterblichen ebenfalls unsterblich waren. Bei Kreuzungen eines Unsterblichen mit einem Sterblichen dagegen waren die Nachkommen sterblich.
Geschichten von unsterblichen Menschen oder von Menschen, die ein biblisches Alter erreichten, erschienen plötzlich glaubwürdig. Waren die Altersangaben in der Bibel von Methusalem, 969 Jahre, Jered, 962, Noach, 950, Adam, 930, Mahalalel, 895, und Henoch, 365, doch kein Rechenfehler, wie manche Bibelforscher behaupteten? Waren sie die letzten Vertreter einer ausgestorbenen Laune von Mutter Natur?
Im Sommer 2018 hatten Professor Jeong und seine Leute die Genmanipulation so weit standardisiert, dass sie den nächsten Schritt angehen konnten: den Einbau des LL-Telomerase-Genoms der unsterblichen Fadenwürmer in eine Reihe anderer Organismen. Bei Fischen, Amphibien, Reptilien und Nagern erlebten sie nur Rückschläge. Lediglich eine Versuchsreihe, bei der aufgrund der Komplexität niemand mit einem positiven Ergebnis gerechnet hatte, war erfolgreich: Primaten.
Der erste genmanipulierte Schimpanse wurde im Januar 2020 in London geboren, drei weitere folgten innerhalb weniger Wochen. Die Schimpansen waren gesund, kräftig und agil. Als Einjährige waren sie intelligenter und weiter entwickelt als ihre normalen Artgenossen.
Bis April 2022 wusste Dérúgo Feng von diesen Experimenten nichts. Professor Jeong informierte ihn zwar grob über seine Forschungsarbeiten, Feng interessierte sich jedoch nur für die Kieselsteine , wie sie zu der Zeit schon genannt wurden. Ansonsten war er mit seiner politischen Karriere vollends beschäftigt.
Professor Jeong wollte bei Feng nicht zu früh Hoffnungen wecken, er befürchtete Rückschläge. Erst als die Schimpansen das erste Lebensjahr hinter sich hatten, war er bereit, die größte Genmanipulation der Menschheitsgeschichte anzugehen.
Im April 2022 schlug er Dérúgo Feng per Mail vor, das Kieselstein-Projekt abzubrechen und eine zweite Projektphase zu starten, die er Diamant nennen wollte – er lieferte seine Gründe für den Abbruch des alten Projektes schriftlich und deutete das neue lediglich an.
So bekam er Dérúgo Fengs Wutanfall nur aus der Ferne mit. Der Hinweis auf eine neue Option sollte Feng versöhnlich stimmen.
Als Jeong seinen Auftraggeber dann persönlich traf, schwand sein Optimismus – Feng saß hinter seinem riesigen Schreibtisch und blickte extrem mürrisch.
„Sie haben versagt, Herr Professor“,
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