Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
oder codierten Form denkt. Aber fühlen? Was meinen Sie damit?“
„Ich versuche es mit einem Beispiel. Nehmen wir eine einfache Formel: x + y = 5 und x = 3, daraus folgt y = 2. Sie und ich verstehen das, weil wir gelernt haben, eine entsprechende Gleichung aufzulösen. Wir lösen sie nach einer bestimmten Regel. Jetzt stellen Sie sich jemanden vor, der noch nie mit Gleichungen und Formeln zu tun hatte, der keine Ahnung von diesen Regeln hat. Ich gebe ihm die gleiche Formel, also x + y = 5 und x = 3, und ich sage ihm, y = 4. Er antwortet: Nein, das ist nicht harmonisch, oder: Es fühlt sich nicht richtig an. Er rechnet es nicht aus, er weiß es nicht, sondern er sieht es oder fühlt es. Wenn Sie ihn jetzt noch mathematisch schulen, spürt er in einer riesigen Formel sofort jegliche Disharmonie auf und erkennt, noch bevor er mit dem Rechnen anfängt, den Fehler.“
„Und Sie glauben …“ Wieder ein böser Blick von Mary Taydon, „entschuldigen Sie, Sie sind sicher, dass Tobias Feist Computercodes spüren kann?“
„Vielleicht nicht direkt spüren, ich tippe mehr darauf, dass es eine Art Sehen ist. Schauen Sie hier den Text an“, sie griff nach einem Protokoll auf seinem Schreibtisch, „wir sehen nur den Text. Herr Feist sieht zusätzlich jeden Buchstaben und hier zum Beispiel auch den kleinen Fleck und selbst eine Unreinheit im Papier, und das stört das harmonische Bild.“
Brian stand sofort unter Strom. Denn Mary Taydon präsentierte ihm eine Möglichkeit, eines seiner Ziele zu erreichen. Noch während sie von weiteren Savants und ihren erstaunlichen Fähigkeiten berichtete, wurde für Brian aus dem Menschen Tobias Feist eine Waffe. Eine perfekte Waffe im Cyberkrieg – einem Krieg, der seit Jahren tobte, von dem die breite Öffentlichkeit jedoch nichts mitbekam.
„Bevor wir weiterreden, Frau Taydon. Wer weiß außer Ihnen von diesem Befund?“ Aus dem etwas träge wirkenden Geheimdienstler war innerhalb von Sekunden ein Soldat geworden, der ein Ziel hatte und dem man nichts vormachen konnte. Mary war gezwungen, ihren ersten Eindruck von dem etwa fünfzehn Jahren jüngeren Kollegen zu korrigieren.
„Bisher weiß nur ich von dem Befund. Meine Assistentin hat die Tests durchgeführt und mich über den Verdacht auf einen schwach ausgeprägten Autismus informiert. Sie weiß lediglich, dass ich mich intensiv mit Feist beschäftigt habe. Was vielleicht außergewöhnlich, aber durchaus erklärbar ist. Sie wollen das Ganze als Geheimsache behandeln?“
So stellten Fletcher und Taydon in dieser ersten halbe Stunde fest, dass sie sich nahezu blind verstanden. Sie benötigten nicht viele Worte, um sich in Bezug auf Tobias Feist zu verständigen. Das sollte in den nächsten Jahren von Vorteil sein, bezog sich aber ausschließlich auf Tobias Feist.
Brian nickte nur. „Was haben Sie sonst noch herausgefunden? Sie haben erwähnt, dass Savants oft behindert oder sozial beeinträchtigt sind. Der Junge macht eigentlich einen ganz normalen Eindruck. Vielleicht ein wenig introvertiert, aber sonst?“
„Sie wollen wissen, ob und wie Sie ihn führen können. Wo die Risiken liegen?“ Sie wartete seine Antwort erst gar nicht ab, sie wusste, welche Informationen Brian benötigte.
„Nein, Tobias Feist ist nicht geistig behindert. Er hat typische Anzeichen eines schwach ausgeprägten Autismus, was sich insbesondere bei der Annäherung an andere Menschen bemerkbar macht. Ich persönlich würde dies aber noch nicht als Autismus bezeichnen, andere Experten könnten das anders sehen. Ein grenzwertiger Fall. Er vermeidet den direkten Kontakt mit fremden Menschen und grundsätzlich meidet er, wenn es geht, größere Menschenansammlungen. Er kann sich überwinden, wenn es sein muss. Ansonsten zieht er sich am liebsten in ein vertrautes Umfeld zurück. Er ist in dieser Hinsicht sehr stimmungsabhängig.
Sein Ordnungssinn ist sehr ausgeprägt, Sie sollten sich also grundsätzlich von seinem Arbeitsplatz und von seinen Sachen fernhalten. Vermutlich sammelt und ordnet er gerne. Ich hatte den Eindruck, dass ihn derzeit etwas dabei stört, als würde er beim Sammeln oder Ordnen von jemandem oder etwas behindert. Er wirkte bei diesem Thema sehr unruhig.“
„Sammeln? Sie meinen Briefmarken, Uhren oder so etwas Ähnliches?“ Brian fürchtete, dass das eine dumme Frage war, aber er hatte nicht die geringste Ahnung, wie ein Savant funktionierte – Mary Taydon war die Expertin.
„Nein, ich vermute, er sammelt
Weitere Kostenlose Bücher