Homo ambrosius (Die Chimären) (German Edition)
nicht überstanden. Er wartete nur noch auf den psychologischen Abschlussbericht, dann konnte er den Papierkram fertig machen und die Sache war für ihn erledigt.
Die Psychologin Mary Taydon hatte sich für den frühen Nachmittag angekündigt, um mit ihm über den Bericht zu reden. Das war neu – bisher hatte er sämtliche psychologischen Berichte schriftlich und ohne weitere Erläuterungen bekommen. Taydon hatte zwar schon einmal angedeutet, dass sie ihn bei Gelegenheit gerne persönlich treffen würde, dennoch erschien ihm ihr persönliches Erscheinen im Zusammenhang mit Tobias’ Gutachten ungewöhnlich.
Als Mary Taydon Brians Büro betrat, war er von ihrer Dynamik überrascht. Obwohl er regelmäßig mit Gutachten und Analysen aus ihrer Feder zu tun hatte, hatte er sich bisher nie ein Bild von ihr gemacht. Er schätzte sie auf Anfang bis Mitte fünfzig. Sie war etwa 1.70 Meter groß und in dem schwarzen Deuxpièces wirkte sie äußerst elegant und sehr attraktiv.
Ihre schwarzen Haare trug sie kurz, nach der aktuellen Mode. Das stand ihr außerordentlich gut. Ihre klaren wasserblauen Augen bildeten einen umwerfenden Kontrast zum dunklen Haar. Lachfalten um Augen und Mund ließen Humor und Lebensfreude vermuten. Sie war taff, und er fand sie auf Anhieb sympathisch. Und sie hatte Haare auf den Zähnen, wie er bald feststellen sollte.
„Wissen Sie, was ein Savant ist, Leutnant Fletcher?“, fragte sie ihn sofort, ohne Zeit mit Small Talk zu verschwenden. Er verneinte, sah aber vor seinem geistigen Auge Berge von Dokumenten in die Höhe wachsen, die er allesamt ausfüllen müsste …
„Ein anderer Begriff ist auch Inselbegabung. Diese Begabung ist selten, die Betroffenen haben außerordentliche und weit überdurchschnittliche Fähigkeiten und …“ Sie zögerte einen Moment, „… sie weisen oftmals eine geistige oder soziale Beeinträchtigung auf.“
„Und Ihrer Meinung nach ist Tobias Feist ein, wie nannten Sie es, Savant?“
„Benötigen Sie eine Zweitmeinung?“, ihre Stimme war plötzlich schneidend.
„Entschuldigen Sie, aber ich habe noch nie von Savants und dieser Inselbegabung gehört. Ist das jetzt gut oder nicht?“
„Leutnant Fletcher, ich formuliere es mal so: Sie haben uns da ein Jahrtausendgenie gebracht, und wenn Sie erst einmal die Fähigkeiten, die Herr Feist hat, verstanden haben und ihn entsprechend einsetzen, werden Sie ihn nie mehr weglassen.“ Er spürte ihre Begeisterung, konnte sie aber nicht nachvollziehen. Das sah man ihm wohl auch an.
„Moment, ich zeige Ihnen, wozu ein Savant zum Beispiel fähig ist. Kommen Sie.“ Mit einem Ruck stand sie auf und ging ans Fenster, er stellte sich neben sie. „Schauen Sie jetzt von links nach rechts, was sehen Sie?“
„Die Fassaden der Häuser gegenüber, die Straße, die Autos …“
„Das reicht“, unterbrach sie ihn. „Setzen Sie sich wieder.“ Sie wartete, bis er an seinem Schreibtisch saß. „Und jetzt zeichnen Sie auf, was Sie gerade gesehen haben.“
Er schaute sie irritiert an. „Alles?“
„Alles, an das Sie sich erinnern können, jedes Detail, so viele Details wie möglich.“
Er zog einen Block aus der Schublade und zeichnete, ziemlich linkisch, wie er wusste. „Sie können aufhören“, unterbrach sie sein unmotiviertes Gekritzel nach wenigen Minuten. „Leutnant Fletcher, es gibt Menschen, die in der Lage sind, nach einem kurzen Blick ein vollständiges, quasi fotoidentisches Abbild von dem zu zeichnen, was sie gesehen haben. Können Sie sich das vorstellen?“
„Fotoidentisch, also mit allen Details? Sie meinen das ernst?“
Für diese Frage bekam er von ihr einen vernichtenden Blick. „Tatsächlich gibt es mindestens einen Menschen, der das kann: Stephen Wiltshire, auch die lebende Kamera genannt, ein gebürtiger Londoner, ein guter Freund von mir. Er ist inzwischen ein berühmter Künstler, aber lassen wir das.“
„Und diese Fähigkeit hat Tobias Feist?“
„Nicht genau diese. Er hat eine andere, eine neue, bisher unbekannte, noch nicht beschriebene Fähigkeit. Sie ist im mathematischen Bereich anzusiedeln. Wir müssen es noch genauer untersuchen, aber ich bin mir jetzt schon ziemlich sicher. Ich vermute, dass Tobias Feist in Computeralgorithmen, in Computercodes, denken und fühlen kann!“
Brian brauchte eine Weile, um diese Worte zu verdauen, Mary Taydon wartete und sagte nichts. „Fühlen?“, fragte er schließlich. „Ich kann mir noch verstellen, dass jemand in einer mathematischen
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