Homo ambrosius (Die Organhändler) (German Edition)
äußerst streng gezeigt, die Urteile sollten wohl Nachahmer abschrecken.
Den Kandidaten mit der dreijährigen Haftstrafe sortierte Schell gleich aus. Er hatte ein Drogenproblem, das Risiko war einfach zu groß. Das sah auch Lisa ein.
Die Akte des Kandidaten, mit dem sie gleich zusammentreffen würden, sah dagegen vielversprechend aus. Er war der Einzige, der zuvor noch nie mit dem Gesetz in Konflikt geraten war, umso mehr wunderte sich Jakob über das harte Urteil. Ein Kommentar in der Akte wies auf den Grund für das Strafmaß hin: „Fehlende Reue und fehlendes Unrechtsbewusstsein.“
In einigen Minuten sollte der Wärter ihn bringen. Lisa würde ihn im Besuchszimmer in Empfang nehmen und ihm die mögliche Zusammenarbeit erläutern. Jakob wollte ihn aus dem Nachbarraum beobachten und sich so einen ersten Eindruck verschaffen.
Sie hatten hier keinen Verhörraum mit einem einseitigen Spiegel, wie man ihn aus Kinofilmen kennt. Doch die beiden Besuchsräume waren durch eine dicke Milchglasscheibe abgetrennt, die in Brusthöhe einen etwa zehn Zentimeter breiten, klaren Sichtstreifen hatte. Das sollte für ihre Zwecke genügen.
Jakob ging nochmals die wichtigsten Punkte durch: „Tobias Feist, dreiundzwanzig Jahre, eins achtundachtzig groß, achtundsiebzig Kilo, konfessionslos, ledig. Mit vierzehn Jahren von zu Hause weggelaufen und auf der Straße gelebt. Eltern beide Alkoholiker, Vater mittlerweile tot, drei Geschwister. Laut Psychologe von seiner Familie vollständig entfremdet. Introvertierter Einzelgänger. DNA-Profil erfasst, nicht analysiert.“
Irritiert las Jakob den letzten Satz noch einmal: „DNA-Profil erfasst, nicht analysiert.“ War das inzwischen Standard? Das war ihm neu, erschien ihm aber logisch. Immerhin gehörte bei der Spurensicherung die Suche und Sicherung der DNA des Täters längst zum Handwerkszeug. Er las weiter.
„Hochintelligent, kein Schulabschluss, mit fünfzehn Jahren Arbeit in einem türkischen Internetkaffee. Seit sechs Monaten in Haft, vor knapp einem Monat, am 27. Juli 2012, zu achtzehn Monaten verurteilt, von denen er nach Abzug der Untersuchungshaft noch zwölf Monate absitzen muss.“
Tobias Feist war ein geradezu vorbildlicher Straftäter. Jakobs Instinkt sagte ihm: Da war etwas faul. Es war alles zu perfekt, da stimmte etwas nicht. Kein Widerstand bei der Verhaftung. Im möblierten Zimmer, das Feist bewohnte, hatte man nichts Persönliches wie Bücher oder Bilder gefunden. Sondern diverse Elektronik und Computerbauteile.
Hier aber gemäß Expertengutachtens das Beste vom Besten. Wert etwa 20.000 Euro. Ein paar Tausend Euro auf dem Konto, das war alles. Bei der Vernehmung zuerst Schweigen, nach der Konfrontation mit den Beweismitteln geständig und kooperativ.
Feist war in einen größeren Kreditkartenbetrug verwickelt gewesen, und soweit Schell es verstand, hatte er dafür diverse Programme geschrieben. Die entscheidende Transaktion, bei der innerhalb weniger Stunden rund dreißig Millionen Euro erbeutet wurden, wurde nachweislich über Feists Rechner ausgelöst.
Erwischt hatte man ihn einige Tage nach der Transaktion, durch einen Tipp aus der Szene. Über seine Komplizen oder Auftraggeber hatte er nichts ausgesagt. Im Vernehmungsprotokoll stand, dass er glaube, man habe ihn reingelegt. Am Schluss gingen auch die Ermittlungsbeamten davon aus.
Der Staatsanwalt hatte das allerdings ignoriert. Obwohl Feist kooperiert hatte und trotz der Ergebnisse der Ermittlungsbeamten stellte ihn der Staatsanwalt als einen der Hauptschuldigen dar und setzte ein hartes Strafmaß durch. Er statuierte ein Exempel.
Im Nebenraum öffnete sich die Tür, das Geräusch riss Jakob aus seinen Gedanken. Er hatte sich so hingestellt, dass er den Kandidaten von der Seite sehen konnte, wenn der auf dem Stuhl saß. Als Tobias Feist den Raum betrat, fiel ihm neben der hohen, hageren Gestalt seine außergewöhnliche längliche Kopfform auf, die schlanken Hände und die langen Finger. Pianistenhände, schoss es ihm durch den Kopf.
Lisa bat Feist, Platz zu nehmen, und nun sah er ein blasses Gesicht, welches von einer billigen, hässlichen Hornbrille dominiert wurde, die den jungen Mann um einiges älter machte.
Tobias Feist nahm die Brille ab und rieb sich die Nasenwurzel, fixierte Lisa mit einem skeptischen, fragenden Blick. Das setzte in Jakobs Kopf einen Mechanismus in Gang. Die Augen und die Art, wie Feist die Augenbrauen hochgezogen hatte, löste bei ihm eine unerwartet heftige Reaktion
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