Honeymoon
die verschiedenen Möglichkeiten durch. Nora könnte zum Beispiel kurz zum Telefonieren hinausgegangen sein. Oder sie wollte nur rasch eine rauchen – das klang schon plausibler. Andererseits hatte sie Nora noch nie mit einer Zigarette in der Hand gesehen.
Die Frau drehte sich zu dem Tisch um, an dem Noras Begleiter saß und wartete. Er sieht wirklich nicht schlecht aus, dachte sie. Irgendwie erinnert er mich an ...
»Entschuldigen Sie bitte«, sagte auf einmal eine Stimme hinter ihr.
Sie drehte sich um und sah sich einem Mann mittleren Alters mit grau meliertem Haar gegenüber. Er trug einen Roll-kragenpullover und ein Sakko und hatte offenbar mit Aftershave geduscht.
Sie blickte zu ihm auf, sagte aber nichts. Sie wartete.
Er legte die Hand auf den freien Hocker neben ihr. »Ist dieser Platz besetzt?«
»Ich glaube nicht.«
Er ließ sie sein schmieriges Kukidentlächeln sehen und setzte sich. »Kaum zu glauben, dass neben einer so schönen Frau noch niemand sitzt«, sagte er und platzierte einen Unterarm auf der Theke. Er rückte noch ein Stück näher an sie heran. »Darf ich Sie zu einem Drink einladen?«
»Ich habe noch etwas im Glas.«
»Das macht nichts, ich warte gerne«, meinte er und nickte gelassen. »Die ganze Nacht, wenn's sein muss.«
Die blonde Frau lächelte kokett und hob ihr Martiniglas. Dann kippte sie ihm den Inhalt noch immer lächelnd über den Kopf.
»So, jetzt ist es leer«, sagte sie.
Sie stand auf und ging. Aber nicht zur Tür. Nachdem sie sich überzeugt hatte, dass Nora nicht zurückkommen würde, steuerte sie den Tisch an, an dem ihr Begleiter noch immer wartete.
»Entschuldigen Sie, warten Sie vielleicht auf Nora Sinclair?«
Er sah ein wenig verwirrt zu ihr auf. »Äh ... ja, richtig.«
»Ich fürchte, sie kommt nicht mehr.«
»Wie meinen Sie das?«
»Ich habe gerade gesehen, wie sie das Restaurant verlassen hat.«
Jetzt war er vollkommen verwirrt. Er spähte über die Schulter zum Ausgang; seine Augen zuckten suchend hin und her. Er machte Anstalten, aufzustehen.
»Das können Sie sich sparen«, sagte sie. »Es ist schon gut fünf Minuten her.«
Er setzte sich wieder. »Das verstehe ich nicht. Sind Sie eine Freundin von ihr oder so?«
»Nein, das kann man nicht gerade sagen.« Sie setzte sich auf den Platz, den Nora geräumt hatte. »Aber hätten Sie etwas dagegen, wenn ich Ihnen ein paar Fragen stelle?«
60
Nora musste für ein paar Tage raus aus New York. Zum Glück hatte sie eine Ausweichmöglichkeit.
Als sie auf der I-95 Richtung Norden fuhr, herrschte nur geringer Verkehr, und nachdem sie auf die 395 abgebogen war, kam sie sogar noch besser voran. Aber eine halbe Stunde südlich von Boston hatte ein quer stehender Sattelschlepper hatte für einen kilometerlangen Stau gesorgt, was Nora daran erinnerte, warum sie es zumeist vorzog zu fliegen.
Aber sie regte sich darüber nicht sonderlich auf.
Nach dem Friedhofsabenteuer und ihrem Abendessen mit Brian Stewart – dem Möchtegern-Don-Juan, dem es an pekuniärer Potenz mangelte – brauchte Nora dringend ein wenig Beständigkeit in ihrem Leben. Einfach mal eine Weile mit den Beinen – oder den Rädern – auf dem Boden bleiben. Es tat ihr gut, sich die Zeit für die Fahrt nach Boston zu nehmen. Und die Nacht mit ihrem Göttergatten zu verbringen.
»Du glaubst ja gar nicht, wie sehr ich dich vermisst habe!«, begrüßte Jeffrey sie in der Eingangshalle seiner Sandsteinvilla in der Back Bay. Er schloss sie in die Arme, küsste sie auf die Lippen, die Wangen, den Hals – und fing dann noch einmal von vorne an.
»Ich bin fast versucht, dir zu glauben«, neckte ihn Nora. »Dabei hatte ich schon geglaubt, du hättest mich ganz vergessen, nach deinem Buchfestival mit all den begeisterten weiblichen Fans aus Virginia.«
»Wie könnte ich jemals
das
hier vergessen und
das
und
das
?«, fragte Jeffrey zwischen weiteren Küssen.
»Ich bin ganz deiner Meinung«, erwiderte Nora.
Sie eilten die Treppe hinauf ins Schlafzimmer. Bald lagen ihre Kleider verstreut am Boden, und ihre Haut glänzte vor Schweiß, als sie sich an diesem warmen Nachmittag liebten – und am frühen Abend noch einmal. Nur einmal verließ Jeffrey das Bett, um dem Lieferburschen die Tür aufzumachen, der das bestellte vietnamesische Essen brachte.
Eng aneinander gekuschelt futterten sie Wakami-Salat, Huhn Cuu-Long und Rindfleisch mit Zitronengras und sahen sich dabei
Der unsichtbare Dritte
auf Video an. Nora war ein großer Hitchcock-Fan – der
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