Honeymoon
eigentlich?
Nora hatte fest geglaubt, wenn sie Craig Reynolds in dieser Nacht folgte, würde sie endlich auch O'Hara zu Gesicht bekommen. Das war der Hauptgrund, weshalb sie hier war.
Aber er war keiner der drei mit Schaufeln bewaffneten Arbeiter. Und sicherlich auch nicht der Streifenpolizist. Blieb abgesehen von Craig nur noch ein Mann, und der war eigentlich noch gar kein Mann. Undenkbar, dass dieser kettenrauchende Jüngling da O'Hara ist, dachte Nora.
In diesem Moment tauchte der Deckel des Sarges über dem Rand des Grabes auf. Bei seinem Anblick musste sie sich abwenden. Sie konnte einfach nicht länger hinsehen. Wieder lehnte sie sich mit dem Rücken an den Grabstein. Sie konnte das Pochen ihres Herzens hören.
Was sie als Nächstes zu hören bekam, war mit nichts zu vergleichen.
Ein entsetzliches Krachen und Knirschen – es kam aus der Richtung von Connors Grab. Nora spannte sofort sämtliche Muskeln an. Sie wusste nicht, was geschehen war, und ein Teil von ihr wollte, dass es auch so blieb.
Aber sie musste hinsehen.
Also lugte sie noch einmal hinter dem Grabstein hervor.
Ihre Augen weiteten sich, ihre Kinnlade klappte herunter. Fast hätte sie laut geschrien. Connors Sarg baumelte in der Luft, nur noch an einer Seite aufgehängt, der Deckel weit offen. Ihre Fantasie ergänzte den Rest, und als sie sah, wie der Polizist sich übergab, wäre es ihr auch fast hochgekommen.
Sie hätte es dem Cop gewiss gleichgetan, wenn nicht ein anderer Instinkt die Oberhand gewonnen hätte.
Nichts wie weg hier!
57
Am nächsten Tag fuhr Nora nach Manhattan zurück und begab sich auf schnellstem Wege in das Bliss-Wellness-Center in der Nähe ihrer Wohnung in Soho. Dort ließ sie sich eine Karotten-Sesam-Packung und eine Heißölmassage verabreichen, gefolgt von Maniküre und Pediküre. Normalerweise konnte Nora sich am besten entspannen, wenn sie sich so richtig nach allen Regeln der Kunst verwöhnen ließ.
Aber drei Stunden und vierhundert Dollar später ging es ihr immer noch nicht besser. Die vergangene Nacht ließ sie einfach nicht los. Es war Spätnachmittag, und ihr graute davor, den Abend allein verbringen zu müssen.
Sie überlegte, ob sie Elaine und Allison anrufen sollte. Vielleicht hatten sie Lust auf ein spontanes Treffen. Nora griff nach ihrem Handy, doch dann hielt sie inne. Ihr war eine andere Idee gekommen. Vielleicht gab es ja eine bessere Art, sich abzulenken. Anstatt über die Vergangenheit nachzugrübeln, könnte sie den Blick auf künftige Taten richten. Eine kleine Aufwärmrunde. Mach dich bereit für deinen Einsatz, Brian Stewart.
Nora rief den reichen Softwaremagnaten an, den sie im Flugzeug kennen gelernt hatte, und fragte ihn, ob er schon irgendwelche Pläne für den Abend habe.
»Nichts, was sich nicht canceln ließe«, antwortete er prompt. »Geben Sie mir ein paar Sekündchen.« Kurz darauf rief er zurück. Er hatte seinen Terminkalender frei geräumt und war bereit, ihn wieder zu füllen. Und zwar ausschließlich mit Nora.
»Ich hoffe, Sie müssen morgen nicht allzu früh aus den Federn«, warnte er sie lachend vor. Ganz aufgeregt zählte er auf, was sie erwartete.
Cocktails in der King Cole Bar.
Anschließend Dinner im Vong.
Dann zum Tanzen ins Lotus im West Village.
Nora war hellauf begeistert. Nach einer Nacht auf dem Friedhof war das genau das richtige Kontrastprogramm.
58
Bei einer Flasche Perrier Jouët in der King Cole Bar unterhielt Brian Stewart sie mit lustigen Anekdoten aus seiner Kindheit. Nora lauschte gebannt und lachte über die Geschichten. Zugleich fiel ihr auf, wie viele der Geschichten sich um seine Familie drehten. An der Art, wie Brian über sie redete, konnte sie ablesen, wie nahe sie einander standen. Das machte sie eifersüchtig. In den Jahren ihrer Odyssee von Pflegefamilie zu Pflegefamilie hatte sie von Glück sagen können, wenn irgendjemand an ihren Geburtstag gedacht hatte.
Natürlich hatte sie nicht vor, Brian irgendetwas davon zu erzählen.
Im Lauf der Zeit hatte Nora ihre erfundene Geschichte über ihre Kindheit und Jugend immer weiter perfektioniert. Der Vater Architekt, die Mutter Lehrerin. Ihr trautes Familienleben in der ländlichen Idylle von Litchfield, Connecticut. Je öfter sie ihre Geschichte erzählte, desto besser konnte sie die Wahrheit vergessen. Eines Tages, so hoffte sie, wäre es so, als hätte ihre Mutter nie vor Noras Augen ihren Vater getötet.
Beim Dinner im Vong stieg Brian auf Wein um, Nora auf San Pellegrino. Sie aßen
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