Hongkong 02 - Noble House Hongkong
gesehen. »Sie sagt, ihr Dorf heißt Ningtok …«
Ein wahrer Glücksfall, dachte Wu. Seine eigenen Eltern waren aus Ningtok gekommen, und er sprach diesen Dialekt.
Jetzt war er zwanzig Schritte hinter ihr und beobachtete, wie sie um Gemüse feilschte und nur das Beste aussuchte. Sie kaufte nur sehr wenig, und so wußte Wu, daß die Familie, für die sie arbeitete, arm war. Nun stand sie vor dem Budentisch eines rundlichen Geflügelhändlers. Sie schacherten miteinander, hatte ihre Freude an derben Witzen und holten mal dieses, mal jenes Huhn aus den engen Käfigen, bis endlich der Handel abgeschlossen war. Weil sie so gut zu feilschen verstand, gab sich der Händler mit einem bescheideneren Gewinn zufrieden. Gedankenlos drehte er dem Tier den Hals um und warf es seiner fünfjährigen Tochter zu, die auf einem Haufen Federn und Abfall saß und nun begann, das Huhn zu rupfen und zu säubern.
»He, Herr Geflügelhändler«, rief Wu, »ich möchte einen Vogel zum gleichen Preis. Den da drüben!« Er zeigte auf ein Huhn, ohne das ärgerliche Brummen des Mannes zu beachten. »Ältere Schwester«, sagte er höflich zu der Alten, »Sie haben mir geholfen, Geld zu sparen. Möchten Sie eine Schale Tee mit mir trinken, während wir auf unsere Hühner warten?«
»Ach ja, danke. Meine alten Knochen wollen nicht mehr so recht. Wir gehen da hinüber.« Ihre hutzeligen Finger deuteten auf eine gegenüberliegende Bude. »Von dort können wir aufpassen, daß wir bekommen, was wir bezahlt haben.«
Von Wu gefolgt, drängte sie sich auf die andere Straßenseite hinüber, bestellte Tee und ein Stück Kuchen und setzte sich damit auf eine Bank. Sie erzählte Wu, daß sie bei fremden Leuten lebte und Hongkong haßte. Es fiel ihm leicht, ihr Honig um den Mund zu schmieren, indem er ein Wort der in Ningtok gesprochenen Mundart einfließen ließ und dann sehr überrascht tat, als sie sogleich auf diese Bauernsprache überging und ihm berichtete, daß sie aus dem gleichen Dorf kam. Sie erzählte ihm, daß sie seit ihrem siebenten Lebensjahr für dieselbe Familie in Ningtok gearbeitet hatte. Doch dann, o Schmerz, war ihre Herrin – das Kind, das sie aufgezogen hatte, mittlerweile auch schon eine alte Dame wie sie selbst – vor drei Jahren gestorben.
»Ich blieb im Haus, aber die Familie machte eine schlimme Zeit durch. Und dann kam auch noch die Hungersnot. Viele im Dorf beschlossen, hierher zu ziehen. Unterwegs wurde ich irgendwie von den anderen getrennt, aber es gelang mir, hierher zu kommen – bettelarm, hungrig, ohne Familie, ohne Freunde; ich wußte nicht, wohin. Schließlich bekam ich diese Stellung, und jetzt arbeite ich als Ködiin-amah für die Familie Tschung. Er ist Straßenkehrer. Von diesen Hundeknochen bekomme ich weiter nichts als eine Schlafstelle und das Essen. Tschungs Hauptfrau ist eine madenmäulige Hexe, aber bald werde ich sie alle los sein! – Du sagst, dein Vater kam vor zehn Jahren mit seiner Familie hierher?«
»Ja. Uns gehörte ein Feld unweit des Bambuswäldchens am Fluß. Mein Vater hieß Wu Tscho-tam und …«
»Ja, ich erinnere mich an die Familie. Wir waren die Wu Ting-tops, und uns gehörte die Apotheke an der Straßenkreuzung.«
»Ach, der ehrenwerte Apotheker Wu? Natürlich!« Augenglas Wu konnte sich sehr gut an die Familie erinnern. Apotheker Wu hatte immer mit den Maoisten sympathisiert. In diesem Tausend-Seelen-Städtchen war er sehr beliebt gewesen und hatte seine Mitbürger, so gut er konnte, vor den Einflüssen der Außenwelt bewahrt.
»Also bist du einer von Wu Tscho-tams Söhnen, Jüngerer Bruder!« rief Ah Tarn erfreut. »Das Leben war einmal herrlich in Ningtok, aber in den letzten Jahren …«
»Ja, wir hatten Glück. Unser Feld warf einen guten Ertrag ab, und wir bestellten das Land wie eh und je, aber dann kamen Fremde und brachten Klagen gegen alle Landbesitzer vor – als ob wir jemanden ausgebeutet hätten! Darum entschloß sich mein Vater eines Tages vor zehn Jahren, mit uns allen zu fliehen. Jetzt ist er tot, und ich lebe mit meiner Mutter nicht weit von hier.«
»Ja, damals sind viele geflohen. Angeblich ist es jetzt besser. Die Fremden lassen uns zufrieden. Sie ließen auch meine Herrin und uns alle zufrieden, denn Vater war ein wichtiger Mann und von Anfang an ein Anhänger des Vorsitzenden Mao. Meine Herrin hieß Fang-ling, jetzt ist sie tot. – Hongkong ist eine schmutzige Stadt, und mein Zuhause ist mein Dorf. Aber jetzt …« Die Alte senkte ihre Stimme und
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