Hongkong 02 - Noble House Hongkong
war schon seit ein paar Monaten mit keiner Frau mehr beisammen gewesen. Sein letztes Abenteuer war eine Bekanntschaft in London, ein zufälliges Zusammentreffen, ein zwangloses Dinner, und ab ins Bett. Sie wohnte im selben Hotel, war geschieden und keine Tochter von Traurigkeit. Wie hatte Orlanda sich ausgedrückt? Ein freundschaftlicher Nahkampf und ein schüchterner Abschied. Ja, genau! Aber schüchtern war Orlanda nicht.
Der Regen wird noch viel Ärger machen, dachte er, und das könnte auch Orlanda, alter Knabe. Keine Frage. Trotzdem muß es einen Weg geben, sie herumzukriegen.
Was ist eigentlich an ihr dran, daß sie dir so unter die Haut geht? Ist es ihr Gesicht? Die Figur? Die Art, wie sie dich anschaut? Eine richtige Frau ist sie, das ist alles. Du solltest sie vergessen. Sei gescheit, Freundchen!
5
10.50 Uhr:
Es hatte nun schon fast zwölf Stunden geregnet, und der Boden der Kolonie war von Wasser durchtränkt, obwohl sich die leeren Reservoirs noch kaum gefüllt hatten.
Die ausgetrocknete Erde nahm das Naß durstig auf. Der meiste Regen lief von der gehärteten Oberfläche ab, überflutete die tiefergelegenen Stadtteile, verwandelte ungepflasterte Straßen in Moraste und machte aus Baugruben Seen. Für das Umsiedlungsland war der langanhaltende heftige Regen eine einzige Katastrophe.
Klapprige Hütten standen da, errichtet aus Bruch und Abfall, Karton, Brettern, Wellblech, Segelleinen, Zaunmaterial – Wände aus dreischichtigem Holz und Dächer für die Wohlhabenderen – eine an die andere gelehnt, eine auf der anderen, Schicht auf Schicht den Berg hinauf und herunter – alle mit Lehmböden und dunklen Hinterhöfen, die jetzt von Wasser bespült waren, in Matsch verwandelt, mit Schlamm und Pfützen bedeckt und gefährlich. Der Regen drang durch die Dächer, durchnäßte Bettzeug und Kleider, Menschen an Menschen gedrängt und von Menschen umgeben, die stoisch die Achseln zuckten und auf ein Ende des Regens warteten. Zerlumpte Gestalten streiften planlos herum, verzweifelt bemüht, noch irgendwo ein Plätzchen für Flüchtlingsfamilien und illegale Einwanderer zu finden, die keine Fremden waren, denn jeder Chinese, der die Grenze überschritt, wurde zu einem legalen Siedler, der, so sah es eine alte Verordnung der Hongkonger Verwaltung vor, bleiben konnte, solange es ihm beliebte.
Aber die Flüchtlinge wurden nicht immer willkommen geheißen. Voriges Jahr war die Kolonie von einer Menschenflut fast überschwemmt worden. Ohne vorherige Warnung lockerten die Grenzwachen der Volksrepublik China die strengen Kontrollen, und schon eine Woche später ergoß sich täglich eine Flut von Tausenden über die Grenze. Meistens kamen sie nachts über und durch den eher nur Symbolwert besitzenden Zaun, der die New Territories von der Grenzprovinz Kwantung trennte. Die Polizei war außerstande, die Flut einzudämmen. Die Armee mußte aufgeboten werden. In einer einzigen Nacht im Mai wurden fast 6.000 dieser illegalen Horde verhaftet, gespeist und am nächsten Tag wieder zurückgeschickt – aber weitere Tausende waren durch das Netz geschlüpft und damit zu legalen Siedlern geworden. Haufen von zornigen und mit den Unglücklichen sympathisierenden Chinesen sammelten sich an der Grenze, um die Ausweisungen zu stoppen. Die Ausweisungen waren notwendig, denn die Kolonie drohte zu ersticken. Es war einfach unmöglich, einen so plötzlichen, enormen Bevölkerungszuwachs zu ernähren, unterzubringen und zu verkraften.
Und dann, so plötzlich, wie es begonnen hatte, versiegte der menschliche Springquell, und die Grenze schloß sich. Wieder ohne ersichtlichen Grund.
In diesen sechs Wochen waren fast siebzigtausend Menschen festgenommen und zurückgeschickt worden. Zwischen hunderttausend und zweihunderttausend – die genaue Zahl konnte nie eruiert werden – schlüpften durch das Netz und blieben.
Unter ihnen befanden sich Augenglas Wus Großeltern und vier Onkel mit deren Familien, insgesamt siebzehn Seelen, und seit ihrer Ankunft hatten sie hoch über Aberdeen auf einem Umsiedlungsgebiet gelebt. Augenglas Wu hatte für alles Nötige gesorgt. Es war dies Land, das die Familie von Noble House Tschen seit eh und je besaß, und bis vor kurzem war es wertlos gewesen; das hatte sich geändert. Dankbaren Herzens hatte Augenglas Wu eine Parzelle von zwanzig mal zwölf Fuß zu einem HK per Fuß monatlich gepachtet. Seitdem hatte er der Familie geholfen, das Material für zwei Wohnstätten zusammenzusuchen. Es gab
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