Hongkong 02 - Noble House Hongkong
komme schon zurecht.« Sie sah den Kummer in Caseys Gesicht, und Mitgefühl wallte in ihr auf. »Casey«, sagte sie rasch, »wegen Linc: Es war nicht meine Absicht, ihn einzufangen – im schlechten Sinn ja, ich habe ihn geliebt, und ja, ich hätte alles getan, um seine Frau zu werden, aber das ist doch fair. Und ehrlich gesagt, ich glaube, ich wäre ihm eine wunderbare Frau gewesen.
Ich habe ihn wirklich geliebt, und …« Wieder das leichte Hochziehen der Schultern. »Sie verstehen. Es tut mir leid.«
»Ja, ich verstehe. Es braucht Ihnen nicht leid zu tun.«
»Als ich Ihnen das erstemal begegnete, in Aberdeen, auf dem Schiff«, setzte Orlanda hastig hinzu, »dachte ich noch, wie dumm Linc doch war, und vielleicht auch Sie, weil … was soll ich noch sagen, gerade jetzt?« Wieder traten ihr Tränen in die Augen. Und ihre Tränen, die Echtheit ihrer Tränen, ließen auch Casey in Tränen ausbrechen.
Eine kleine Weile saßen die beiden Frauen so da. Dann fand Casey ein Papiertaschentuch und trocknete sich die Augen. Nichts war entschieden. Sie fühlte sich entsetzlich und wollte jetzt nur zu Ende bringen, was sie begonnen hatte. Sie nahm einen Umschlag aus ihrer Handtasche. »Hier ist ein Scheck auf zehntausend Dollar. Ich wollte …«
Orlanda rang nach Atem. »Ich will Ihr Geld nicht! Ich will nichts von …«
»Es ist nicht von mir. Es ist von Linc. Hören Sie mir einen Augenblick zu!« Casey berichtete ihr, was Dunross ihr von Bartlett erzählt hatte. Es riß ihre Wunde von neuem auf, als sie die Worte wiederholte. »Das hat Linc gesagt. Ich glaube, Sie waren es, die er heiraten wollte. Vielleicht irre ich mich. Ich weiß es nicht. Aber wie auch immer: Es wäre sein Wunsch gewesen, etwas … für Ihre finanzielle Sicherheit zu tun.«
Angesichts dieser Ironie des Geschehens wäre Orlanda fast das Herz zersprungen.
»›Brautführer‹ hat Linc gesagt? Wirklich wahr?«
»Ja.«
»Und daß wir Freundinnen sein sollen? Er wollte, daß wir Freundinnen sind?«
»Ja«, antwortete Casey, ohne zu wissen, ob sie gut daran tat, ihr alles zu sagen. Doch als sie die zarte jugendliche Schönheit des Mädchens vor sich sah, die großen Augen, die feine Haut und die vollkommene Schönheit ihrer Figur, konnte sie es weder Linc noch ihr verdenken. Meine Schuld war es, seine nicht und auch ihre nicht. Und ich weiß, daß Linc sie nicht mittellos zurückgelassen hätte. Und er wollte, daß wir Freundinnen werden. Vielleicht können wir das. »Warum versuchen wir es nicht?« fragte sie. »Hören Sie: Hongkong ist kein Platz für Sie. Warum versuchen Sie es nicht anderswo?«
»Ich kann nicht weg. Ich bin hier eingesperrt, Casey. Ich habe keine Ausbildung. Ich bin ein Niemand. Mit dem Bakkalaureat der Naturwissenschaften kann ich nichts anfangen.« Sie begann wieder zu weinen. »Ich würde einfach wahnsinnig, wenn ich eine Stechkarte in eine Kontrolluhr stecken müßte.«
Aus einer plötzlichen Regung heraus sagte Casey: »Warum versuchen Sie es nicht in den Staaten? Vielleicht könnte ich Ihnen dabei behilflich sein, einen Job zu finden.«
»Bitte?«
»Ja. Vielleicht in der Modebranche – ich weiß nicht genau, was, aber ich würde es gern versuchen.«
Ungläubig starrte Orlanda sie an. »Sie möchten mir wirklich helfen?«
»Ja!« Sie legte den Umschlag und die Visitenkarte auf den Tisch und erhob sich.
Orlanda ging auf sie zu und legte ihre Arme um ihre Schultern. »O danke, Casey, danke!«
Casey erwiderte die Umarmung, und ihre Tränen vermischten sich.
Die Nacht war dunkel, nur selten kam der Mond zwischen den hoch dahinziehenden Wolken hervor. Roger Crosse ging lautlos auf das halb versteckte Pförtchen in der hohen Mauer zu, die das Government House umschloß, und benützte seinen Schlüssel. Er verschloß die Tür hinter sich, lenkte seine Schritte zur Ostseite und stieg einige Stufen zu einer Kellertür hinunter. Wieder steckte er einen Schlüssel ins Schloß.
Ebenso lautlos ging die Tür auf, und ein bewaffneter Posten, ein Gurkha, hielt seine Waffe schußbereit. »Parole, Sir?«
Crosse gab ihm die Losung. Der Posten salutierte und trat zur Seite. Am anderen Ende des Ganges klopfte Crosse. Der Adjutant des Gouverneurs öffnete. »Guten Abend, Oberinspektor.«
»Ich hoffe, ich habe Sie nicht warten lassen?«
»Überhaupt nicht.« Sie durchquerten eine Flucht von Kellern und kamen schließlich zu einer dicken Stahltür, eingelassen in einen Betonbunker, den man in der Mitte des Hauptkellers
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