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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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nach dem Essen fanden wir sogar ein Thema, bei dem wir gleicher Meinung waren und auf das wir uns mit einer Art empörter Begeisterung stürzten: die Greueltaten der Loyalisten, von denen ich fast genauso viele aufzählen konnte wie er. Während der Mahlzeit beugte [332] sich der Bischof, der sich für Politik wenig interessierte, einmal weit vor und erkundigte sich mit sanfter Stimme, ob Luke denn nicht mit einem Massaker an der katholischen Minderheit rechne, falls seine Protestbewegung ihr Ziel erreiche und die britische Armee sich zurückziehe. Luke erwiderte, seiner Meinung nach habe die britische Armee nie sonderlich viel für die Katholiken im Norden getan, die würden schon für sich selbst sorgen können.
    »Aha«, gab mein Vater zurück, ganz als würde ihn das beruhigen, »dann also ein Blutbad auf beiden Seiten.«
    Luke reagierte verwirrt. Er wusste nicht, ob er auf den Arm genommen wurde. Aber das war keineswegs der Fall. Der Bischof wollte nur höflich sein und brachte das Gespräch jetzt auf ein anderes Thema. Auf politische oder auch theologische Debatten ließ er sich grundsätzlich nicht ein, weil ihm die Meinungen anderer Leute in Wahrheit gleichgültig waren und er keinen Drang verspürte, sich mit ihnen auseinanderzusetzen oder ihnen gar zu widersprechen.
    Wie sich herausstellte, war es meiner Mutter durchaus recht gewesen, den Braten erst um 22 Uhr zu servieren, Hauptsache, ich war dabei. Sie war nach wie vor stolz auf meine Arbeit und die finanzielle Unabhängigkeit, die sie mir immer gewünscht hatte. Um ihre Fragen nach meinem angeblichen Ministerium beantworten zu können, hatte ich vorab wieder einmal ein wenig Recherche betrieben. Vor einiger Zeit war ich dahintergekommen, dass fast alle meine Kolleginnen ihren Eltern erzählt hatten, für wen sie arbeiteten – unter der Bedingung, dass sie nicht nach weiteren Einzelheiten fragten. Ich hingegen hatte eine komplizierte [333] und gutrecherchierte Legende erfunden und allzu viele unnötige Märchen aufgetischt. Jetzt konnte ich nicht mehr zurück. Hätte meine Mutter die Wahrheit erfahren, hätte sie Lucy davon erzählt, und die hätte womöglich nie wieder ein Wort mit mir gesprochen. Ich wollte auch nicht, dass Luke erfuhr, was ich wirklich machte. Also langweilte ich mich selbst mit umständlichen Ausführungen zu den Plänen des Ministeriums für eine Reform des Sozialversicherungssystems und konnte nur hoffen, dass meine Mutter das genauso einschläfernd fand wie der Bischof und Lucy und möglichst bald aufhören würde, mich mit gescheiten Fragen zu löchern.
    Zu den Segnungen unseres Familienlebens und vielleicht der anglikanischen Kirche im Allgemeinen gehörte es, dass man nicht von uns erwartete, den Gottesdiensten unseres Vaters beizuwohnen. Ihm war es völlig egal, ob wir da waren oder nicht. Ich war seit meinem siebzehnten Lebensjahr nicht mehr mitgegangen. Lucy wohl schon seit ihrem zwölften. Für den Bischof war jetzt Hauptsaison, und so stand er kurz vor dem Nachtisch abrupt auf, wünschte uns allen frohe Weihnachten und entschuldigte sich. Meine Tränen hatten, soweit ich das sehen konnte, auf seinem Kirchenhemd keine Spuren hinterlassen. Fünf Minuten später hörten wir das vertraute Rascheln seiner Soutane, als er auf dem Weg zur Haustür am Esszimmer vorbeieilte. Ich war damit aufgewachsen, seine beruflichen Verpflichtungen waren für mich Normalität, aber jetzt, nach längerer Abwesenheit aus meinem Londoner Leben wieder heimgekehrt, kam es mir höchst sonderbar vor, einen Vater zu haben, der sich täglich mit dem Übernatürlichen befasste und [334] spätabends, Hausschlüssel in der Tasche, zur Arbeit in einen schönen steinernen Tempel ging und dort in unser aller Namen einen Gott mit Dank oder Lobpreis oder demütigen Bitten überhäufte.
    Meine Mutter ging nach oben in das kleine, auch als Packzimmer bekannte Gästezimmer, um die letzten Geschenke einzuwickeln, während Lucy, Luke und ich den Tisch abräumten und Geschirr spülten. Lucy stellte das Küchenradio an, es lief die John-Peel-Show mit progressivem Rock, wie ich ihn seit Cambridge nicht mehr gehört hatte. Die Musik sagte mir nichts mehr. Was einst das Zusammengehörigkeitsgefühl einer befreiten Jugend symbolisiert, eine neue Welt verheißen hatte, war jetzt zu bloßen Songs verkommen, in denen es zumeist um Liebeskummer und manchmal um Fernweh ging. Auch diese Musiker waren ehrgeizig und versessen darauf, sich einen Namen zu machen, und die Konkurrenz

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