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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Dichtkunst zur Großstadt, durch die Jahrhunderte. Dabei hatte er die Wissenschaft eigentlich hinter sich gelassen, und es hatte ja durchaus auch Zeiten gegeben, da seine Doktorarbeit ihn zur Verzweiflung getrieben hatte. Doch jetzt erwachte eine gewisse Nostalgie in ihm, und er sehnte sich nach der stillen Integrität und den präzisen Regeln wissenschaftlichen Arbeitens zurück und vor allem nach Spensers hinreißenden Versen. Er kannte sie so gut, die Wärme hinter ihrer strengen Form – das war eine Welt, in der er leben konnte. Die Idee für den Artikel war originell und kühn, geradezu aufregend, ein Brückenschlag zwischen [324] unterschiedlichen Disziplinen. Geologie, Städtebau, Archäologie. Bei einer Fachzeitschrift kannte er einen Herausgeber, der jederzeit gern etwas von ihm bringen würde. Vor zwei Tagen hatte Tom auf einmal überlegt, ob er sich für eine offene Dozentenstelle an der Universität Bristol bewerben sollte. Sein Master in Internationalen Beziehungen war ein Ablenkungsmanöver gewesen. Die Schriftstellerei vielleicht auch? Er sah seine Zukunft in Lehre und Forschung. Das Gespräch mit Maschler vorhin am Bedford Square war ein einziger Krampf gewesen, er war sich wie ein Betrüger vorgekommen. Es war durchaus möglich, dass er nie mehr einen Roman schreiben würde, nicht einmal mehr eine Kurzgeschichte. Wie konnte er das Maschler gegenüber zugeben, dem angesehensten Belletristikverleger der Stadt?
    Oder mir gegenüber. Ich zog meine Hand zurück. Es war zwar mein erster freier Montag seit Monaten, aber in Sachen Honig war ich immer im Dienst. Ich sagte Tom, es sei eine wohlbekannte Tatsache, dass Schriftsteller sich nach der Vollendung eines Werks oft ausgebrannt fühlen. Fachmännisch erklärte ich ihm, man könne durchaus Romane schreiben und nebenher gelegentlich einen wissenschaftlichen Aufsatz, das schließe sich nicht aus. Ich suchte nach irgendeinem berühmten Schriftstellernamen als Beispiel, aber mir fiel keiner ein. Die zweite Flasche kam, und ich setzte zu einer Lobrede auf Toms Werk an. Es sei der ungewöhnliche psychologische Blickwinkel, die merkwürdige Intimität seiner Geschichten in Verbindung mit seinen weltläufigen Artikeln über den Aufstand in Ostdeutschland oder den Großen Postzugraub, es sei diese enorme [325] Bandbreite, die ihn auszeichne, und genau deshalb sei die Stiftung so stolz auf ihn, genau deshalb kursiere der Name T. H. Haley in literarischen Kreisen als Geheimtipp und wollten zwei ihrer wichtigsten Exponenten, Hamilton und Maschler, ihn als Autor für sich gewinnen.
    Tom lauschte meiner Rede mit jenem knappen, nachsichtig skeptischen Lächeln, das mich manchmal auf die Palme brachte.
    »Du hast mir doch erzählt, du könntest nicht gleichzeitig schreiben und lehren. Wärst du mit dem Gehalt eines Assistenzprofessors zufrieden? Achthundert Pfund im Jahr? Vorausgesetzt, du bekommst überhaupt eine Stelle.«
    »Als ob ich daran nicht selbst gedacht hätte.«
    »Neulich hast du gesagt, du möchtest für Index on Censorship einen Artikel über den rumänischen Staatssicherheitsdienst schreiben. Wie heißt der doch gleich?«
    »Securitate. Aber eigentlich geht es um Gedichte.«
    »Ich dachte, es geht um Folter.«
    »Nebenbei auch.«
    »Du hast gesagt, vielleicht wird daraus eine Erzählung.«
    Seine Augen leuchteten auf. »Vielleicht. Nächste Woche treffe ich mich wieder mit meinem Dichterfreund Traian. Ohne seine Zustimmung kann ich nichts machen.«
    Ich sagte: »Es gibt keinen Grund, warum du den Spenser-Aufsatz nicht auch schreiben solltest. Du bist vollkommen frei, genau darum geht es der Stiftung doch. Du kannst tun, was immer du willst.«
    Danach verlor er offenbar das Interesse und wollte das Thema wechseln. Also redeten wir über die Themen, über die alle redeten – die energiesparende Dreitagewoche, die [326] laut Regierungsbeschluss von Silvester an gelten sollte, die Verdoppelung des Ölpreises am Vortag, die Bombenanschläge in Kneipen und Geschäften überall in der Stadt, »Weihnachtsgeschenke« der Provisorischen IRA . Wir wunderten uns darüber, dass viele Leute mit einer merkwürdigen Freude Energie sparten, bei Kerzenlicht aßen zum Beispiel, als ob die Not dem Leben wieder einen Sinn gäbe. Zumindest uns schien das, nachdem wir die zweite Flasche geleert hatten, durchaus wahr.
    Es war kurz vor vier, als wir uns vor der U-Bahn-Station Leicester Square voneinander verabschiedeten. Wir umarmten und küssten uns, umschmeichelt von einer

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