Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
Vom Netzwerk:
aus der Kathedrale drang nur Schweigen. Wahrscheinlich wurde gerade gebetet. In der anderen Waagschale meines Schicksals lag, abgesehen von meiner Beförderung, Tom. Ich wollte Lucy von ihm erzählen, ich sehnte mich nach einem Schwatz unter Schwestern. Gelegentlich kamen wir dazu, jetzt aber stand Lukes Riesengestalt zwischen uns, und wie viele Männer, die Cannabis rauchen, erlag er dem unverzeihlichen Drang, in einem fort davon zu reden – irgendwelches berühmtes Gras aus einem bestimmten Dorf in Thailand, der schreckliche Abend, als er nur knapp einer Verhaftung entgangen war, die Aussicht über einen gewissen heiligen See bei Sonnenuntergang nach einem Joint, ein komisches Missverständnis an einer Bushaltestelle und andere einschläfernde Anekdoten. Was stimmte nicht mit unserer Generation? Unsere Eltern hatten den Krieg, mit dem sie uns langweilen konnten. Und wir hatten das.
    Nach einer Weile verstummten wir Mädchen vollends, während Luke sich in seiner Euphorie immer tiefer in den Irrtum hineinsteigerte, er sei interessant und wir würden ihm gebannt lauschen. Und fast im selben Augenblick traf mich die gegenteilige Erkenntnis. Glasklar. Natürlich. Lucy und Luke warteten nur darauf, dass ich ging, sie wollten [338] allein sein. Jedenfalls hätte ich das gewollt, wenn Tom und ich in der Situation gewesen wären. Luke gab vorsätzlich und systematisch den Langweiler, um mich loszuwerden. Wie unsensibel von mir, das erst jetzt zu bemerken. Der Ärmste trug in seinem Übereifer viel zu dick auf und verdarb damit die ganze Vorstellung. Derart langweilig war im wirklichen Leben niemand. Aber auf seine umständliche Art versuchte er nur, freundlich zu sein.
    Also reckte und streckte ich mich, gähnte herzhaft in die Finsternis hinein, unterbrach ihn kurzerhand mit der Bemerkung: »Du hast völlig recht, ich sollte langsam gehen«, und ließ die beiden stehen. Binnen Sekunden fühlte ich mich besser und ohne weiteres in der Lage, Lucys Rufe zu ignorieren. Befreit von Lukes Anekdoten, ging ich eilig den Weg zurück, den wir gekommen waren, und spürte, als ich die Abkürzung über den Rasen nahm, das angenehme Knirschen des Rauhreifs unter meinen Füßen. Im Kreuzgang, wo das Licht des Halbmonds nicht hindrang, fand ich dann im Dunkeln einen Vorsprung, auf den ich mich setzen konnte, und schlug den Kragen meines Mantels hoch.
    Ich hörte von drinnen eine einzelne Stimme, leisen Gesang, konnte aber nicht erkennen, ob es der Bischof war. Bei Anlässen wie diesem stand ihm eine große Mannschaft zur Seite. In schwierigen Situationen tut es gut, sich die Frage zu stellen, was man eigentlich am dringlichsten will, und dann zu überlegen, wie man es erreichen kann. Wenn das nicht geht, nimmt man das Zweitbeste. Ich wollte mit Tom zusammen sein, im Bett mit ihm, an einem Tisch ihm gegenüber, auf der Straße seine Hand halten. Und wenn das nicht ging, wollte ich wenigstens an ihn denken. Und das [339] tat ich dann, an diesem Heiligabend, eine halbe Stunde lang, ich lobpreiste ihn, ich dachte an unsere Wochenenden, an seinen kräftigen und gleichzeitig knabenhaften Körper, an das Wachsen unserer Liebe, an seine Arbeit und wie ich ihm helfen könnte. Das Geheimnis, das ich ihm verschwieg, versuchte ich zu verdrängen. Stattdessen dachte ich an die Freiheit, die ich ihm gebracht hatte, und daran, dass ich ihm bei Vermutlich Ehebruch geholfen hatte und ihm noch bei viel mehr helfen würde. So großartig alles. Ich nahm mir vor, ihm diese Gedanken in einem Brief mitzuteilen, in einem lyrischen, leidenschaftlichen Brief. Ich würde ihm erzählen, wie ich vor der Tür meines Elternhauses zusammengebrochen und weinend an die Brust meines Vaters gesunken war.
    Es war keine gute Idee gewesen, bei Frost reglos auf einem Stein sitzen zu bleiben. Ich begann zu zittern. Dann hörte ich wieder von irgendwo auf dem Gelände meine Schwester nach mir rufen. Sie klang besorgt, und allmählich kam ich zur Besinnung und erkannte, wie unfreundlich ihr mein Verhalten erschienen sein musste. Die paar Züge an dem Knallbonbon waren schuld. Jetzt kam es mir völlig absurd vor, dass Luke mit Absicht langweiliges Zeug gefaselt haben könnte, um ein paar Augenblicke mit Lucy allein zu sein. Fehlurteile ließen sich schwer durchschauen, wenn die Instanz, die sie durchschauen sollte, der Kopf, benebelt war. Jetzt dachte ich klar. Ich trat auf das mondhelle Gras hinaus, sah meine Schwester und ihren Freund hundert Meter vor mir auf dem Pfad und

Weitere Kostenlose Bücher