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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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warmen Brise, die aus dem U-Bahn-Schacht zu uns hochwehte. Dann machte Tom sich, um den Kopf freizubekommen, zu Fuß zur Victoria Station auf, während ich nach Camden fuhr, um meine paar Kleider und kümmerlichen Weihnachtsgeschenke einzupacken, im trüben Bewusstsein, dass ich meinen Zug unmöglich erwischen und daher zu spät zum Heiligabend-Essen eintreffen würde, das meine Mutter immer Tage selbstloser Vorbereitung kostete. Sie würde nicht erfreut sein.
    Ich nahm den Sechs-Uhr-dreißig-Zug, kam kurz vor neun am Bahnhof an und machte mich zu Fuß auf den Weg, über den Fluss und dann bei hellem Halbmond den beinah ländlichen Uferpfad entlang, an dunklen vertäuten Booten vorbei, und atmete die reine, eiskalte Luft, die von Sibirien her über East Anglia wehte. Ihr Geruch erinnerte mich an meine Jugend, an Langeweile und Sehnsucht, an unsere kleinen Rebellionen, die von dem Verlangen, sich bei bestimmten Lehrern mit glänzenden Aufsätzen beliebt zu [327] machen, gebremst oder durchkreuzt worden waren. Ach, die edle Enttäuschung einer Eins minus, scharf und eisig wie ein Nordwind! Der Pfad führte an den Rugbyplätzen der Jungenschule vorbei, und schon kam in der Ferne der Kirchturm in Sicht, der Kirchturm meines Vaters, mit sahnehellem Licht beleuchtet. Ich bog vom Uferpfad ab, ging über das Spielfeld und an den Umkleideräumen vorbei, deren herber Geruch für mich damals alles verkörpert hatte, was mich an Jungen faszinierte, und gelangte durch ein altes Eichentor, das früher niemals abgeschlossen war, auf das Gelände der Kathedrale. Es gefiel mir, dass es auch heute nicht verschlossen war und noch immer in den Angeln quietschte. Dieser Gang durch eine längst vergangene Zeit berührte mich mehr, als ich erwartet hatte. Vier, fünf Jahre – das war doch gar nichts. Aber niemand über dreißig verstand mehr diese so bedeutungsschwere und dichte Zeit zwischen den letzten Teenagerjahren und den frühen Zwanzigern, eine Lebensphase, die einen Namen brauchte, vom Schulabschluss bis zum Eintritt ins Arbeitsleben, mit Studium und Liebesaffären und Tod und wichtigen Entscheidungen zwischendrin. Ich hatte vergessen, dass meine Kindheit gerade erst hinter mir lag und mir einst doch so lang und unentrinnbar vorgekommen war. Wie erwachsen und wie unverändert ich doch war.
    Ich weiß nicht, warum mein Herz heftiger schlug, als ich auf das Haus zuging. Kurz davor verlangsamte ich meinen Schritt. Ich hatte vergessen, wie ungeheuer groß das Haus war, und wunderte mich jetzt, dass ich diesen blassroten Queen-Anne-Palast jemals als normales Zuhause betrachtet hatte. Ich bewegte mich zwischen den kahlen Konturen [328] zurückgeschnittener Rosensträucher und Buchsbaumeinfassungen, die in von massiven Yorkstone-Platten eingefassten Beeten standen. Ich zog an der Glocke, und zu meiner Verwunderung schwang die Tür fast im selben Augenblick auf, und dahinter erschien, mit einer grauen Jacke über seinem Purpurhemd und Priesterkragen, der Bischof. Er würde nachher noch die Mitternachtsmesse lesen. Offenbar war er gerade durch die Vorhalle gegangen, als ich läutete, denn die Tür aufzumachen war etwas, das ihm sonst niemals in den Sinn gekommen wäre. Er war ein stattlicher Mann mit vage freundlichem Gesicht und einer jungenhaften, aber komplett weißen Stirnlocke, die er ständig zur Seite schob. Manch einer fühlte sich bei seinem Anblick an einen gutmütigen Kater erinnert. Während er in Würde seine Fünfziger durchschritt, war sein Bauch immer dicker geworden, was gut zu seinem bedächtigen, selbstversunkenen Habitus passte. Meine Schwester und ich hatten uns hinter seinem Rücken oft über ihn lustig gemacht, manchmal sogar recht hämisch, aber nicht, weil wir ihn nicht mochten – ganz im Gegenteil –, sondern weil wir nie, oder nie lange, seine Aufmerksamkeit auf uns ziehen konnten. Unser Leben war für ihn weit entfernt und voller läppischer Dinge. Dass Lucy und ich als Teenager um ihn kämpften, bekam er nicht mit. Wir sehnten uns jede für sich danach, ihn ganz für uns zu haben, und sei es auch nur für zehn Minuten in seinem Arbeitszimmer, und argwöhnten beide, dass die andere ihm lieber sei. Meine Schwester mit ihrem Chaos aus Drogen, ungewollter Schwangerschaft und Gesetzeskonflikten war in den Genuss vieler solcher privilegierter Minuten gelangt. Wenn ich am Telefon davon hörte, empfand ich trotz aller [329] Sorge um Lucy einen Stich der alten Eifersucht. Wann kam ich mal an die

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