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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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war groß. Aus Peels gutunterrichteten Kommentaren zwischen den Songs war das herauszuhören. Nicht einmal die eine oder andere Pub-Rock-Nummer zwischendurch riss mich mit. Offenbar werde ich alt, dachte ich, während ich die Backformen meiner Mutter schrubbte. Beim nächsten Geburtstag schon dreiundzwanzig. Dann fragte meine Schwester, ob ich mit ihr und Luke ein bisschen im Kathedralenviertel spazieren gehen wolle. Sie wollten rauchen, und im Haus duldete der Bischof das nicht, zumindest nicht von Familienmitgliedern – eine Haltung, die damals ungewöhnlich war, und repressiv, wie wir fanden.
    Der Mond stand jetzt höher und ließ den Rauhreif auf dem Gras silbern schimmern, dezenter noch als die von [335] unserer Mutter besprühten Zweige. Die von innen beleuchtete Kathedrale sah einsam und fehl am Platz aus, wie ein gestrandeter Ozeandampfer. Von weitem hörten wir eine behäbige Orgel die Anfangstakte von Hark! The herald angels sing! spielen und dann die Gemeinde tapfer den Gesang anstimmen. Das klang, als sei die Messe gut besucht, und ich freute mich für meinen Vater. Aber Erwachsene, die einträchtig und ohne jede Ironie von Engeln sangen… Plötzlich schwindelte mir, als hätte ich jäh in einen gähnenden Abgrund geblickt. Ich glaubte an so gut wie nichts – weder an Weihnachtslieder noch an Rockmusik. Wir schlenderten zu dritt nebeneinander den schmalen Weg entlang, der an den anderen eleganten Häusern auf dem Gelände vorbeiführte. Da gab es Anwaltskanzleien und ein oder zwei Praxen von Kieferchirurgen. Das Kathedralenviertel war ein weltlicher Ort, und die Kirche verlangte hohe Mieten.
    Wie sich zeigte, wollten meine Begleiter nicht bloß Tabak rauchen. Luke zog aus seinem Mantel einen Joint von der Größe eines Knallbonbons hervor und zündete ihn im Gehen an. Sodann zelebrierte er ein umständliches Ritual, klemmte das Ding zwischen zwei Fingerknöchel, schloss die Hände zusammen, setzte die Lippen an die Lücke zwischen den Daumen, saugte mit lautem Zischen Luft und Rauch ein und sprach ohne auszuatmen weiter, wobei er sich wie die Puppe eines Bauchredners anhörte – albernes Getue, das ich längst vergessen hatte. Wie provinziell mir das vorkam. Die Sechziger waren doch vorbei! Aber als Luke mir sein Knallbonbon hinhielt – geradezu drohend, wie ich fand –, nahm ich ein paar höfliche Züge, um nicht [336] als Lucys verklemmte große Schwester dazustehen. Aber genau das war ich. Für mein Unbehagen gab es zwei Gründe. Erstens wirkte mein Schwächemoment vor der Haustür noch nach. Vielleicht doch eher die Folge von beruflicher Überlastung als von zu viel Champagner? Ich wusste, mein Vater würde nicht mehr darauf zu sprechen kommen oder mich fragen, was mit mir los sei. Das hätte ich ihm übelnehmen sollen, tatsächlich aber war ich erleichtert. Ich hätte sowieso nicht gewusst, was ich ihm antworten sollte. Und zweitens hatte ich einen Mantel an, den ich lange nicht mehr getragen hatte, und als wir zu unserem Rundgang aufbrachen, ertastete ich in der Tasche ein Stück Papier. Ich fuhr mit den Fingern daran entlang und wusste genau, was es war. Der längst vergessene Zettel, den ich in dem sicheren Haus gefunden hatte. Und der erinnerte mich an vieles andere, das chaotisch und unaufgeräumt war, lauter verstreuter seelischer Unrat – Tonys Schmach, Shirleys Verschwinden, die Möglichkeit, dass man mich nur wegen Tonys Doppelspiel genommen hatte, die Aufpasser in meinem Zimmer und, das Schlimmste von allem, der Streit mit Max. Seit seinem Besuch bei mir zu Hause waren wir uns aus dem Weg gegangen. Ich hatte ihm meinen Honig-Bericht noch nicht abgeliefert. Wenn ich an Max dachte, bekam ich Schuldgefühle, die jedes Mal sogleich von Entrüstung verdrängt wurden. Er hatte mich wegen seiner Verlobten abserviert und dann, zu spät allerdings, seine Verlobte meinetwegen. Er war sich selbst der Nächste. Was hatte ich denn falsch gemacht? Aber sooft meine Gedanken zu ihm zurückkehrten, kehrten auch die Schuldgefühle zurück, und wieder musste ich mich vor mir selbst herausreden.
    [337] Das alles hing an diesem Stückchen Papier wie der Schwanz eines unförmigen Kinderdrachens. Wir gingen um die Westseite der Kathedrale herum und standen im tiefen Schatten der hohen steinernen Pforte, die hinaus in den Ort führte; meine Schwester und ihr Freund ließen den Joint zwischen sich hin und her gehen. Ich horchte über Lukes transatlantisches Geleier hinweg nach der Stimme meines Vaters, doch

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