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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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    Jetzt.
    »Serena!« Er sprach meinen Namen in freundlich abfallendem Singsang und mit einem winzigen Hauch gespielter Überraschung aus, ehe er mich in die Arme schloss. Ich ließ meine Tasche zu Boden fallen und schmiegte mich in die Umarmung, und als ich mein Gesicht an sein Hemd drückte und den vertrauten Duft von Imperial-Leather-Seife und Kirchenkerzen – Lavendelwachs – einsog, brach ich in Tränen aus. Ich weiß auch nicht warum, es überkam mich einfach, und ich heulte los. Ich bin sonst nicht so nah am Wasser gebaut und war genauso überrascht wie er. Aber ich kam nicht dagegen an. Es war ein hemmungs- und hoffnungsloses Schluchzen, wie man es sonst von müden Kindern kennt. Ich glaube, es war seine Stimme, der Tonfall, mit dem er meinen Namen aussprach, der mir die Tränen in die Augen trieb.
    Ich spürte, wie mein Vater erstarrte, obwohl er mich weiter in den Armen hielt. Er murmelte: »Soll ich deine Mutter holen?«
    Ich glaubte zu wissen, was er dachte – jetzt hatte es seine ältere Tochter erwischt, Schwangerschaft oder irgendeine andere moderne Katastrophe, und was für weibliche Kalamitäten auch immer jetzt sein frischgebügeltes Purpurhemd benetzten, sie wären in den Händen einer Frau wohl besser aufgehoben. Er musste die Angelegenheit delegieren und endlich in sein Arbeitszimmer gehen, um vor dem Abendessen seine Weihnachtspredigt durchzusehen.
    Aber er sollte mich nicht loslassen. Ich klammerte mich [330] an ihn. Wäre mir doch nur ein von mir begangenes Verbrechen eingefallen, ich hätte ihn angefleht, die Zaubermächte der Kathedrale heraufzubeschwören, auf dass mir verziehen würde.
    Ich sagte: »Nein, nein. Ist schon gut, Daddy. Ich bin nur so, so froh, wieder hier zu sein, wieder… zu Hause.«
    Er entspannte sich. Aber es stimmte nicht. Mir war nicht froh zumute. Was genau es war, konnte ich nicht sagen. Es hatte mit meinem Weg vom Bahnhof nach Hause zu tun, und mit dem Zurücklassen meines Londoner Lebens. Erleichterung vielleicht, aber mit einem bitteren Beigeschmack, so etwas wie Gewissensbissen oder gar Verzweiflung. Später redete ich mir ein, der Alkohol zum Mittagessen hätte mich rührselig gemacht.
    Dieser Augenblick auf der Schwelle kann nicht länger als dreißig Sekunden gedauert haben. Ich riss mich zusammen, hob meine Tasche auf, trat ein und entschuldigte mich beim Bischof, der mich immer noch argwöhnisch ansah. Dann gab er mir einen Klaps auf die Schulter und setzte seinen Weg durch die Halle zu seinem Arbeitszimmer fort, und ich ging ins Bad – das locker so groß war wie mein Zimmer in Camden –, um meine rotgeschwollenen Augen mit kaltem Wasser zu kühlen. Ich hatte keine Lust, von meiner Mutter ausgefragt zu werden. Auf dem Weg zu ihr in die Küche begegnete mir alles wieder, was mich früher erstickt hatte und mir jetzt tröstlich erschien – der Bratengeruch, die flauschige Wärme des Teppichs, das Schimmern von Eiche, Mahagoni, Silber und Glas, die von meiner Mutter geschmackvoll schlicht arrangierten Vasen mit kahlen Hasel- und Hartriegelzweigen, dezent mit Silberfarbe [331] besprüht, um ein wenig Rauhreif anzudeuten. Als Lucy fünfzehn und wie ich darauf aus gewesen war, kultiviert und erwachsen zu wirken, war sie einmal an einem Heiligabend nach Hause gekommen, hatte auf die Zweige gezeigt und gerufen: »Durch und durch protestantisch!«
    Dafür erntete sie den mürrischsten Blick, den ich jemals vom Bischof gesehen habe. Er ließ sich selten zu einem Tadel herbei, aber diesmal bemerkte er kühl: »Das nimmst du zurück, junge Dame, oder du gehst auf dein Zimmer.«
    Als ich Lucy reumütig etwas sagen hörte wie »Mummy, die Dekoration ist wirklich sehr hübsch«, musste ich mir den Bauch halten vor Lachen und befand, dass ich vielleicht besser den Raum verließ. »Durch und durch protestantisch« wurde für uns beide zum rebellischen Schlagwort, das wir aber nur außer Hörweite des Bischofs zu flüstern pflegten.
    Beim Essen waren wir zu fünft. Lucy hatte ihren langhaarigen irischen Freund mitgebracht, Luke, gut eins neunzig groß, Gärtner in den städtischen Grünanlagen und aktives Mitglied der vor kurzem gegründeten ›Troops Out‹- Bewegung, deren Ziel der Abzug der britischen Soldaten aus Nordirland war. Sobald ich das hörte, beschloss ich, mich auf keinerlei Diskussionen einzulassen. Das gelang mir mühelos, denn trotz seiner affektierten amerikanischen Sprechweise erwies Luke sich als sympathischer und humorvoller Zeitgenosse, und

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