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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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eilte ihnen entgegen, um mich zu entschuldigen.

[340] 18
    Im Leconfield House waren die Thermostate auf 15 Grad heruntergestellt, ein Grad tiefer als in anderen Regierungsabteilungen: Man wollte mit gutem Beispiel vorangehen. Wir arbeiteten in Mantel und Handschuhen, und einige der wohlhabenderen Mädchen hatten aus dem Skiurlaub gestrickte Wollmützen mit Bommeln mitgebracht. Man gab uns Filzmatten, die wir auf den Boden unter unsere Füße legen sollten, um sie vor der Kälte zu schützen. Das beste Mittel, die Hände warm zu halten, war pausenloses Tippen. Die Lokführer machten zur Unterstützung der Bergarbeiter Dienst nach Vorschrift, und man rechnete damit, dass den Kraftwerken bis Ende Januar die Kohle ausgehen würde, so wie dem Land das Geld ausging. Idi Amin ließ in Uganda Spenden sammeln und bot den gebeutelten ehemaligen Kolonialherren eine Lastwagenladung Gemüse an, allerdings unter der Bedingung, dass die Royal Air Force persönlich anrückte und sie abholte.
    Als ich von meinen Eltern nach Camden zurückkam, erwartete mich ein Brief von Tom. Er wollte sich das Auto seines Vaters ausborgen und Laura nach Bristol zurückbringen. Das würde nicht einfach werden. Sie hatte der Familie erklärt, sie wolle ihre Kinder mitnehmen. Beim Weihnachtstruthahn hatte es lauten Streit gegeben. Aber das [341] Wohnheim nahm nur Erwachsene auf, und Laura war, wie üblich, ohnehin nicht in der Verfassung, sich um ihre Kinder zu kümmern.
    Danach wollte er nach London kommen und mit mir zusammen das neue Jahr begrüßen. Aber am 30. kam ein Telegramm aus Bristol. Er könne Laura noch nicht allein lassen. Er werde ein bisschen bei ihr bleiben und ihr helfen, sich wieder einzuleben. Also begrüßte ich 1974 mit meinen drei Mitbewohnerinnen auf einer Party in Mornington Crescent. Ich war die einzige Nichtjuristin in der brechend vollen, ziemlich verwahrlosten Wohnung. Ich stand gerade an einer Art Tapeziertisch und schenkte mir lauwarmen Weißwein in einen gebrauchten Pappbecher ein, als jemand mich doch tatsächlich in den Hintern kniff, und zwar kräftig. Ich fuhr wütend herum, beschimpfte aber vermutlich den Falschen. Ich machte mich früh aus dem Staub, um eins war ich bereits im Bett, lag in der eisigen Dunkelheit auf dem Rücken und suhlte mich in Selbstmitleid. Bevor ich einschlief, dachte ich an Toms Bemerkung vor einiger Zeit, wie großartig die Betreuer in Lauras Wohnheim seien. Da war es schon seltsam, dass er noch zwei ganze Tage in Bristol bleiben musste. Aber das hatte wohl nichts zu bedeuten, und ich schlief so fest, dass ich kaum mitbekam, wie meine Juristenfreundinnen um vier betrunken ins Haus stolperten.
    Das neue Jahr begann, und mit ihm die Dreitagewoche, wir aber arbeiteten weiter an allen fünf Tagen, denn unser Dienst war offiziell als unabdingbar eingestuft worden. Am 2. Januar wurde ich zu einer Besprechung in Harry Tapps Büro in der zweiten Etage bestellt. Ohne Vorwarnung, [342] ohne Hinweis auf das Thema. Um zehn ging ich hin, an der Tür stand Benjamin Trescott und hakte Namen auf einer Liste ab. Zu meiner Überraschung drängten sich über zwanzig Personen in dem Raum, darunter zwei, die mit mir angefangen hatten. Alle waren wir im Rang zu weit unten, als dass wir uns anmaßen durften, auf einem der Plastikstühle Platz zu nehmen, die in gedrängter Hufeisenform um Tapps Schreibtisch herum aufgestellt waren. Peter Nutting kam herein, warf einen Blick in die Runde und verzog sich wieder. Harry Tapp stand von seinem Schreibtisch auf und folgte ihm nach draußen. Ich schloss daraus, dass es um Honig gehen sollte. Alle rauchten, flüsterten, warteten. Ich zwängte mich in eine vierzig Zentimeter breite Lücke zwischen einem Aktenschrank und dem Tresor. Im Gegensatz zu früher störte es mich nicht, dass ich niemanden zum Reden hatte. Ich lächelte zu Hilary und Belinda hinüber. Sie zuckten die Schultern und verdrehten die Augen, zum Zeichen, dass sie auch nicht wussten, was das ganze Tamtam sollte. Offenbar hatten sie ihre eigenen Honig-Autoren, Akademiker oder irgendwelche anderen Schreiberlinge, die dem Geld der Stiftung erlegen waren. Aber sicher keinen von T. H. Haleys Kaliber.
    Zehn Minuten vergingen, die Plastikstühle füllten sich allmählich. Max kam herein und setzte sich auf einen in der Mitte. Ich stand hinter ihm, so dass er mich nicht gleich bemerkte. Er wandte den Kopf und sah sich suchend um, nach mir, wie ich annahm. Unsere Blicke trafen sich nur kurz, dann drehte er sich

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