Honig
wieder nach vorn und zückte einen Kugelschreiber. Meine Sicht war nicht gut, aber mir schien, dass seine Hand zitterte. Ich glaubte zwei Herren aus der [343] fünften Etage zu erkennen. Aber nicht den Generaldirektor – dafür war Honig viel zu unbedeutend. Dann kamen Tapp und Nutting wieder herein, gefolgt von einem kleinen muskulösen Mann mit Hornbrille, kurzgeschorenen grauen Haaren, gutgeschnittenem blauem Anzug und einer Seidenkrawatte mit etwas dunkleren blauen Pünktchen. Tapp nahm an seinem Schreibtisch Platz, während die beiden anderen im Stehen geduldig warteten, bis Ruhe eintrat.
Nutting sagte: »Pierre hier ist in London stationiert und hat sich freundlicherweise bereit erklärt, uns ein wenig von seiner Arbeit zu erzählen und wie sie für uns relevant sein könnte.«
Die Kürze dieser Einführung sowie Pierres Akzent ließen uns vermuten, er sei von der CIA . Franzose war er jedenfalls nicht. Er sprach mit heller Stimme und wohltuend unaufdringlich. Man gewann den Eindruck, dass er seine Ansichten, sollte eine davon widerlegt werden, umstandslos wieder mit den Tatsachen in Übereinstimmung bringen würde. Wie mir nach und nach aufging, steckte hinter seinem eulenhaften, fast schon kleinlauten Auftreten grenzenloses Selbstvertrauen. Es war meine erste Begegnung mit einem Amerikaner aus der Oberschicht, Spross einer alteingesessenen Familie aus Vermont, wie ich später erfuhr, und Verfasser eines Buchs über die Hegemonie der Spartaner und eines weiteren über Agesilaos den Zweiten und die Enthauptung von Tissaphernes in Persien.
Pierre wurde mir immer sympathischer. Als Erstes sagte er, er werde uns etwas »über den sanftesten, lieblichsten Aspekt des Kalten Krieges« erzählen, »den einzig wirklich interessanten Aspekt, nämlich den Krieg der Ideen«. Das [344] wolle er mit drei Stimmungsbildern illustrieren. Stellen Sie sich New York in den Jahren vor dem Zweiten Weltkrieg vor, forderte er uns auf, und rezitierte die ersten Zeilen eines berühmten Auden-Gedichts, das Tony mir einmal vorgelesen hatte und das auch Tom liebte, wie ich wusste. Mit dieser Berühmtheit war es für mich nicht weit her, und es hatte mir bis zu diesem Zeitpunkt nicht viel bedeutet, aber jetzt, als ich die Verse eines Engländers aus dem Mund eines Amerikaners vernahm, berührte es mich tief. Ich sitze in einer der Höhlen / In der zweiundfünfzigsten Straße, / Unsicher und ängstlich … und dieses Ich war auch Pierre im Jahr 1940, neunzehn Jahre alt und zu Besuch bei einem Onkel in Manhattan: Angeödet von der Aussicht, demnächst aufs College zu gehen, betrank er sich in einer Bar. Nur dass er nicht ganz so unsicher war wie W. H. Auden. Er wünschte nichts mehr, als dass sein Land in den Krieg in Europa eintrat und ihn dabei mitmachen ließ. Er wollte Soldat werden.
Dann beschwor Pierre für uns das Jahr 1949 herauf: Kontinentaleuropa, Japan und China lagen in Trümmern oder waren geschwächt, Großbritannien nach einem langen heldenhaften Krieg ausgelaugt, Sowjetrussland zählte seine Toten nach Millionen – und Amerika, mit seiner vom Krieg gemästeten und angekurbelten Wirtschaft, wurde sich seiner ungeheuren neuen Verantwortung als oberster Hüter der menschlichen Freiheit auf diesem Planeten bewusst. Bei diesen Worten breitete er bedauernd oder um Nachsicht bittend die Hände aus. Vielleicht meinte er aber auch etwas anderes.
Sein drittes Stimmungsbild war ebenfalls von 1949. Hier finden wir Pierre wieder, die Feldzüge in Marokko und [345] Tunesien, die Normandie, die Schlacht am Hürtgenwald und die Befreiung Dachaus liegen hinter ihm, inzwischen ist er außerordentlicher Professor für Altgriechisch an der Brown University; auf dem Weg ins Waldorf Astoria Hotel in der Park Avenue muss er an einer bunt zusammengewürfelten Schar von Demonstranten vorbei, amerikanische Patrioten, katholische Nonnen und rechte Spinner.
»Drinnen«, sagte Pierre theatralisch und hob eine Hand, »wurde ich Zeuge eines Wettstreits, der mein Leben verändern sollte.«
Es war eine Konferenz unter dem unauffälligen Motto Kultur- und Wissenschaftskonferenz zum Weltfrieden, nominell von einer amerikanischen Standesorganisation veranstaltet, tatsächlich aber eine Initiative des sowjetischen Kominform. Gekommen waren tausend Delegierte aus aller Welt, die sich von Schauprozessen, dem Nazi-Sowjet-Pakt, Unterdrückung, Säuberungen, Folter, Mord und Arbeitslagern noch nicht, oder jedenfalls nicht vollständig, in ihrem Glauben
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