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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Ganzen machte mich sprachlos. Irgendwo hinter und über dem Ansatz meiner Zunge schnürte es mir die Kehle zu. Für den Fall, dass mir die Tränen kamen, wandte ich mich rasch ab. Er sollte das nicht sehen.
    »Natürlich, du bist jung und so weiter. Trotzdem solltest du dich schämen.«
    Als ich meine Stimme wiederfand, hasste ich mich für dieses flehentliche Krächzen. »Tony, du hast gesagt, ich soll sie in den Wäschekorb tun.«
    »Hör doch auf. Du weißt genau, dass ich nichts dergleichen gesagt habe.«
    Er sprach sanft, beinahe liebevoll, wie ein einfühlsamer Vater, einer, den ich bald verlieren würde. Wir hätten uns streiten sollen, schlimmer als er je mit Frieda gestritten hatte, ich hätte mich auf ihn stürzen sollen. Dummerweise war mir, als müsste ich gleich in Tränen ausbrechen, und das wollte ich um jeden Preis verhindern. Ich weine nur selten, und wenn, möchte ich dabei allein sein. Aber diese [49] sanfte, sonore Stimme, ihre Autorität ging mir durch Mark und Bein. Er sprach so selbstsicher und freundlich, dass ich kurz davor war, ihm zu glauben. Weder würde ich seine Erinnerung an den vorigen Sonntag korrigieren können, das spürte ich schon, noch ihn davon abbringen, mir den Laufpass zu geben. Auch lief ich Gefahr, mich zu benehmen, als sei ich schuldig. Wie ein Ladendieb, der vor Erleichterung, dass er erwischt wird, in Tränen ausbricht. Wie unfair, wie hoffnungslos. Ich konnte nichts zu meiner Verteidigung vorbringen. Das stundenlange Warten neben dem Telefon und die schlaflose Nacht hatten mich ausgelaugt. Meine Kehle schnürte sich immer mehr zu, andere Muskeln weiter unten am Hals verkrampften sich, zerrten an meinen Lippen, versuchten sie mir über die Zähne zu ziehen. Der Kollaps stand bevor, aber das konnte ich nicht zulassen, nicht vor ihm. Nicht, wenn er so im Unrecht war. Wenn ich meine Würde bewahren und nicht zusammenbrechen wollte, blieb mir nur Schweigen. Sprechen hätte Selbstaufgabe bedeutet. Dabei wollte ich unbedingt sprechen. Ich musste ihm klarmachen, wie ungerecht er war, dass er wegen einer Gedächtnislücke alles zwischen uns aufs Spiel setzte. Ich befand mich in einer jener vertrauten Situationen, wo der Kopf das eine will, der Körper das andere. Wie wenn man während einer Prüfung an Sex denkt, oder sich auf einer Hochzeit übergeben muss. Je länger ich mich schweigend mühte, meine Gefühle in Zaum zu halten, desto mehr hasste ich mich und desto ruhiger wurde er.
    »Das war hinterhältig, Serena. Ich hatte eine bessere Meinung von dir. Ich sag’s ungern, aber ich bin sehr enttäuscht.«
    [50] So redete er weiter, während ich ihm den Rücken zuwandte. Er habe mir vertraut, mich ermutigt, große Hoffnungen in mich gesetzt, und jetzt das. Es machte ihm die Sache sicherlich leichter, zu meinem Hinterkopf sprechen zu können und mir nicht in die Augen sehen zu müssen. Allmählich kam mir der Verdacht, dass es hier nicht um einen simplen Irrtum ging, nicht um das banale Versagen des Gedächtnisses eines vielbeschäftigten, einflussreichen älteren Mannes. Ich glaubte das alles deutlich vor mir zu sehen. Frieda war vorzeitig aus Wien zurückgekommen. Aus irgendeinem Grund, vielleicht einer bösen Vorahnung, war sie zum Cottage hinausgefahren. Oder sie waren zusammen hingefahren. Im Schlafzimmer lag meine frischgewaschene Bluse. Es folgte eine Szene, in Suffolk oder Cambridge, und dann Friedas Ultimatum – schick das Mädchen in die Wüste, oder verschwinde. Also hatte Tony die naheliegende Entscheidung getroffen. Aber jetzt kommt’s. Er hatte auch etwas anderes beschlossen. Er hatte beschlossen, sich als Opfer darzustellen, als derjenige, dem übel mitgespielt wurde, als Betrogener, als einer, der mit gutem Recht wütend war. Er hatte sich eingeredet, dass er zu mir nie etwas vom Wäschekorb gesagt hatte. Die Erinnerung war ausgelöscht, und zwar absichtlich. Und jetzt wusste er nicht einmal mehr, dass er sie ausgelöscht hatte. Er verstellte sich nicht einmal. Er glaubte wirklich an seine Enttäuschung. Er dachte tatsächlich, ich hätte mich hinterhältig und gemein verhalten. Er schützte sich vor der Vorstellung, dass er eine Wahl gehabt hatte. Schwäche, Selbsttäuschung, Aufgeblasenheit? Das alles auch, vor allem aber ein Fehler im logischen Denken. Die Ehrentafel im College, die [51] Monographien, die Regierungsausschüsse – Schall und Rauch. Die Logik hatte ihn im Stich gelassen. Wie ich es sah, litt Professor Canning an einer schweren geistigen

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