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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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sie sechs Monate auf Bewährung, die Presse hielt still, und mein Vater sicherte einem Rektor oder sonstigen Granden der Universität Manchester seine [43] Unterstützung in einer obskuren Angelegenheit bei der nächsten Synode zu. Im September nahm meine Schwester ihr Studium wieder auf. Zwei Monate später brach sie es ab.
    Im Juli und August hatte ich also viel Muße, im Jesus Green herumzulungern. Ich las Churchill, langweilte mich und wartete aufs Wochenende und den Marsch zur Bushaltestelle am Stadtrand. Bald schon sollte mir der Sommer 72 als goldenes Zeitalter erscheinen, als kostbares Idyll, dabei war das Vergnügen immer nur auf die Zeit von Freitag bis Sonntagabend beschränkt. Diese Wochenenden waren Kompaktkurse in Lebenskunst: wie und was man essen und trinken sollte, wie man Zeitung las, wie man sich in einer Diskussion behauptete, wie man ein Buch fachgerecht »ausweidete«. Ich wusste, bald hatte ich ein Vorstellungsgespräch, aber ich kam nie auf die Idee, mich zu fragen, warum Tony sich diese Mühe machte. Und wenn, hätte ich wahrscheinlich gedacht, dass derlei Aufmerksamkeiten eben dazugehörten, wenn man eine Affäre mit einem älteren Mann hatte.
    Natürlich konnte das nicht ewig so weitergehen, und innerhalb einer stürmischen halben Stunde neben einer lauten Hauptstraße, zwei Tage vor meinem Vorstellungstermin in London, brach alles in sich zusammen. Die genaue Abfolge der Ereignisse ist es wert, überliefert zu werden. Da gab es die Seidenbluse, die ich bereits erwähnt habe und die mir Tony Anfang Juli gekauft hatte. Sie war gut ausgesucht. Ich genoss es, wie kostbar sie sich an einem warmen Abend anfühlte, und Tony sagte mir mehr als einmal, wie sehr ihm der schlichte weite Schnitt an mir gefiel. Ich war gerührt. Er war der erste Mann in meinem Leben, der mir etwas zum [44] Anziehen kaufte. Ein älterer Liebhaber, der mich aushielt. (Ich glaube nicht, dass der Bischof jemals einen Fuß in einen Laden gesetzt hatte.) Es war altmodisch, dieses Geschenk, eine Spur kitschig und schrecklich mädchenhaft, aber ich mochte es sehr. Ich fühlte mich von Tony umarmt, wenn ich es trug. Die Wörter auf dem Etikett, in hellblauer Schnörkelschrift, kamen mir ausgesprochen erotisch vor – »Wildseide. Handwäsche«. Ausschnitt und Ärmelaufschläge waren mit broderie anglaise verziert, die zwei Falten an den Schultern hatten ihr Gegenstück in zwei kleinen Abnähern am Rücken. Dieses Geschenk war ein Sinnbild, nehme ich an. Jedes Mal wenn es Zeit war zurückzufahren, nahm ich die Bluse wieder mit in mein möbliertes Zimmer, wusch sie im Waschbecken, bügelte und faltete sie, und schon war sie bereit für den nächsten Besuch. Wie ich.
    Aber an diesem Septembertag waren wir im Schlafzimmer, und ich packte gerade meine Sachen, als Tony seinen Vortrag unterbrach – er sprach von Idi Amin und Uganda – und sagte, ich solle die Bluse zusammen mit einem seiner Hemden in den Wäschekorb tun. Das klang vernünftig. Wir wären ja bald wieder hier, und die Haushälterin, Mrs. Travers, würde am nächsten Tag kommen und sich um alles kümmern. Mrs. Canning war für zehn Tage nach Wien gereist. Ich erinnerte mich gut an diesen Moment, weil ich mich sehr darüber freute. Der Gedanke, dass unsere Liebe Routine war, etwas Selbstverständliches, mit einer unmittelbaren, immer nur drei oder vier Tage entfernten Zukunft, war Balsam für mich. In Cambridge war ich oft einsam und wartete auf Tonys Anruf über das Münztelefon im Flur. In einer Anwandlung von so etwas wie ehefraulicher [45] Berechtigung hob ich den Korbdeckel, warf die Bluse auf sein Hemd und dachte nicht weiter daran. Sarah Travers kam dreimal die Woche aus dem Nachbardorf. Einmal hatten wir eine angenehme halbe Stunde zusammen am Küchentisch verbracht und Erbsen geschält, dabei erzählte sie mir von ihrem Sohn, der sich als Hippie nach Afghanistan aufgemacht hatte. Sie sagte das voller Stolz, als sei er zur Armee gegangen, um in einem notwendigen und gefährlichen Krieg zu kämpfen. Ich wollte nicht allzu genau darüber nachdenken, nahm aber an, dass sie schon etliche Freundinnen von Tony in dem Cottage hatte ein und aus gehen sehen. Vermutlich störte sie sich nicht daran, solange sie ihr Geld bekam.
    Zurück in meinem Zimmer am Jesus Green vergingen vier Tage, ohne dass ich etwas hörte. Gehorsam verschaffte ich mir einen Überblick über die historische Entwicklung von Arbeiterschutz und Getreideeinfuhrzöllen und studierte die Zeitung. Ich

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