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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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keinen Sex gehabt. Er war viel lauter als ich. Ich neckte ihn, nannte das seinen Gesengte-Sau-Modus.
    Am nächsten Morgen weckte mich das gedämpfte Rattern seiner neuen elektrischen Schreibmaschine. Ich drückte ihm beim Hinausgehen einen Kuss auf den Hinterkopf und machte mich auf den Weg zum Samstagsmarkt. Dort erledigte ich die Einkäufe, holte die Zeitungen und ging in mein Stammcafé. Ein Tisch am Fenster, ein Cappuccino, ein Mandelcroissant. Perfekt. Dazu eine phantastische Besprechung in der Financial Times. »T. H. Haley zu lesen gleicht einer rasenden Fahrt durch enge Kurven. Aber man kann sich darauf verlassen, dass dieser schnittige Wagen immer auf der Straße bleibt.« Ich freute mich schon darauf, ihm das vorzulesen. Die nächste Zeitung auf dem Stapel war der Guardian, mit Toms Name und einem Foto von ihm im Dorchester auf Seite eins. Gut. Ein ganzer Artikel weiter hinten im Blatt. Ich schlug ihn auf, sah die Überschrift – und erstarrte. »Austen-Preisträger vom MI 5 finanziert«.
    Ich hätte mich fast übergeben. Mein erster dummer Gedanke war, dass er das vielleicht nie zu Gesicht bekommen würde. Eine »zuverlässige Quelle« hatte der Zeitung bestätigt, dass die Stiftung ›Freedom International‹, womöglich ohne es zu wissen, »Gelder von einer anderen Institution« erhalten hatte, »zu deren Geldgebern unter anderem eine Organisation gehört, die indirekt vom Geheimdienst finanziert wird«. In panischer Hast überflog ich den Rest des Artikels. Keine Erwähnung von Honig oder von anderen Schriftstellern. Eine präzise Auflistung der monatlichen [395] Zahlungen, dann die Feststellung, dass Tom nach der ersten seine Dozentenstelle gekündigt habe, und schließlich, weniger gefährlich, ein Hinweis auf den Kongress für Kulturelle Freiheit und seine Verbindungen zur CIA . Die alte Encounter -Geschichte wurde aufgewärmt, dann kam man wieder zum Scoop zurück. Von T. H. Haley, hieß es, stammten
    leidenschaftlich antikommunistische Artikel über den Aufstand in Ostdeutschland, über das Schweigen westdeutscher Schriftsteller zur Berliner Mauer und zuletzt über die staatlichen Repressionsmaßnahmen gegen Dichter in Rumänien. Vielleicht ist er genau die Art von Mann, den unsere Geheimdienste als Gleichgesinnten betrachten und dem sie hierzulande Erfolg wünschen: ein rechter Autor, der die allgemeine Linkslastigkeit seiner Kollegen mit Skepsis betrachtet und daraus keinen Hehl macht. Aber eine so gravierende heimliche Einmischung in die Kultur wirft Fragen auf, Fragen nach der Freiheit der Kunst in unserer vom Kalten Krieg geprägten Welt. Noch zweifelt niemand an der Integrität der Austen-Juroren, aber die Preisverantwortlichen könnten sich einmal fragen, wen die gelehrte Runde da eigentlich zum Preisträger gekürt hat und ob in gewissen geheimen Londoner Büros die Champagnerkorken knallten, als Haleys Name verkündet wurde.
    Ich las den Artikel noch einmal und konnte mich an die zwanzig Minuten lang nicht bewegen, mein Kaffee, den ich nicht angerührt hatte, wurde kalt. Jetzt war es sonnenklar. [396] Und unvermeidlich: Wenn ich es ihm nicht erzählte, würde es jemand anders tun. Die Strafe für meine Feigheit. Wie verabscheuenswert und lächerlich ich vor ihm dastehen würde, aus meinem Versteck getrieben, verzweifelt bemüht, ehrlich zu klingen, mich zu rechtfertigen. Liebster, ich hab’s dir nicht gesagt, weil ich dich liebe. Ich hatte Angst, dich zu verlieren. O ja, das hatte ich geschickt eingefädelt. Mein Schweigen, seine Schande. Ich überlegte, ob ich direkt zum Bahnhof gehen, den nächsten Zug nach London nehmen und für immer aus seinem Leben verschwinden sollte. Ja, lass ihn den Sturm allein durchstehen. Noch mehr Feigheit. Aber er würde mich sowieso nicht mehr sehen wollen. Und so ging es im Kreis. Auch wenn ich wusste, es gab keinen Ausweg, ich musste mich Tom stellen, ich musste in die Wohnung zurück und ihm den Artikel zeigen.
    Ich raffte Hähnchen, Gemüse und Zeitungen zusammen, bezahlte mein ungegessenes Frühstück und ging langsam den Hügel hinauf zu seiner Straße. Auf der Treppe hörte ich ihn tippen. Na, damit wäre gleich Schluss. Ich betrat die Wohnung und wartete, dass er aufblickte.
    Er bemerkte mich, lächelte flüchtig und wollte schon wieder weitermachen, als ich sagte: »Das solltest du dir ansehen. Es ist keine Rezension.«
    Ich hielt ihm den Guardian aufgeschlagen hin. Er nahm ihn, wandte mir den Rücken zu und las. Ich fragte mich benommen, ob ich,

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