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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Gerichtshof für Menschenrechte landen. Die Royal Ulster Constabulary wollte uns, so sah es Chas zumindest, mit sich in den Abgrund reißen, und die Armee war auf ihrer Seite. Beide waren sie von seiner Darstellung der Ereignisse alles andere als begeistert. Und bei uns hatte einer von Mounts Vorgesetzten ihm den Berichtsentwurf mit der Aufforderung zurückgeschickt, ihn so umzuformulieren, dass alle Beteiligten damit leben konnten. Schließlich handle es sich »nur« um einen internen Bericht, der bald zu den Akten gelegt und vergessen werden würde. Also brauchte Mount weitere Akten, und wir liefen in der Registratur ein und aus und tippten Zusätze und Nachträge. Für seine kleine Plauderei mit Mount hatte Max einen schlechten Zeitpunkt gewählt. Laut den Sicherheitsvorschriften hätte er unser Büro streng genommen gar nicht betreten dürfen, solange da überall Akten offen herumlagen. Aber Chas war zu höflich oder gutmütig, ihn darauf hinzuweisen. Dennoch reagierte er kurz angebunden, und bald kam Max zu mir herüber. Er hielt einen kleinen braunen Umschlag in der Hand, legte ihn demonstrativ auf meinen Schreibtisch und sagte so laut, dass alle es hören konnten: »Schau dir das an, sobald du mal kurz Zeit hast.« Dann ging er.
    Eine ganze Weile, sicherlich eine Stunde, befand ich, dass ich keine Zeit hatte. Am meisten fürchtete ich eine leidenschaftliche Liebeserklärung auf Bürobriefpapier. Was ich dann schließlich las, war eine sauber getippte Notiz mit den Überschriften »Verschlusssache – Nur für den Dienstgebrauch«, »Honig« und »Von MG für SF « sowie einer Verteilerliste mit den Initialen von Nutting, Tapp und von zwei [387] anderen, die ich nicht kannte. Die Notiz, von Max offensichtlich für die Akten geschrieben, begann mit »Sehr geehrte Miss Frome«. Er gab mir etwas zu bedenken, was ich »wahrscheinlich bereits selbst in Betracht gezogen« hatte. Eine der Honig-Zielpersonen sei zu einiger Bekanntheit gelangt und ins Visier der Medien geraten. »Mitarbeiter sollten sich nicht fotografieren lassen und der Presse aus dem Weg gehen. Sie mögen es für Ihre Pflicht halten, der Austen-Preis-Verleihung beizuwohnen, aber Sie wären gut beraten, dies zu unterlassen.«
    Ausgesprochen vernünftig, aber ich nahm es ihm übel. Natürlich hatte ich vor, Tom dorthin zu begleiten. Ob er gewann oder nicht, er brauchte mich. Aber warum dieses Rundschreiben und nicht ein Gespräch unter vier Augen? War es zu qualvoll für ihn, mit mir allein zu sprechen? Ich hatte den Verdacht, dass mir eine bürokratische Falle gestellt wurde. Somit lautete die Frage, ob ich Max die Stirn bieten oder mich tatsächlich von der Veranstaltung fernhalten sollte. Letzteres schien, da es den Vorschriften entsprach, weniger riskant, aber es ging mir gegen den Strich, und abends auf dem Heimweg erfasste mich eine Mordswut auf Max und seine Machenschaften – ganz egal, was er im Schilde führte. Zusätzlich ärgerte mich, dass ich mir für Tom eine Ausrede ausdenken musste, warum ich nicht mitkommen konnte. Eine Erkrankung in der Familie, eine plötzliche Grippe bei mir, eine akute Krisensituation im Büro. Ich entschied mich für ein verdorbenes Sandwich und Magenverstimmung – plötzlicher Ausbruch, totale Unpässlichkeit, rasche Genesung –, und diese Lüge warf mich naturgemäß auf mein altes Problem zurück. Ich hatte nie den [388] richtigen Moment gefunden, ihm alles zu erzählen. Wenn ich ihn als Honig-Kandidaten abgelehnt und dann eine Affäre mit ihm gehabt hätte, wenn ich die Affäre angefangen und dann beim Geheimdienst gekündigt hätte, oder wenn ich es ihm gleich bei unserer ersten Begegnung gesagt hätte… aber nein, das alles ergab keinen Sinn. Zu Beginn konnte ich ja nicht wissen, was aus uns werden würde, und sobald ich es wusste, war es bereits zu kostbar, um es aufs Spiel zu setzen. Ob ich ihm alles beichtete und dann kündigte, oder kündigte und es ihm dann beichtete, in jedem Fall riskierte ich, ihn zu verlieren. Ich sah nur den Ausweg, es ihm zu verheimlichen. Konnte ich damit leben? Nun, das tat ich ja bereits.
    Im Gegensatz zu seinem lärmenden kleinen Cousin, dem Booker-Preis, legte der Austen-Preis keinen Wert auf Festbankette oder Prominente in der Jury. Wie Tom mir erzählt hatte, war ein alkoholfreier Empfang im Dorchester geplant, bei dem ein namhafter Autor eine kurze Ansprache halten sollte. Die Jury bestand aus Schriftstellern, Literaturwissenschaftlern, Kritikern und dem einen oder

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