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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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würde ich mit dem Nachmittagszug nach Hause fahren, mir die Haare waschen und meine Blusen bügeln, und am Montag im Büro würde ich vor meinen Vorgesetzten geradestehen und mich den Morgenzeitungen stellen müssen, und früher oder später auch Tom. Ich [403] vermochte nicht zu sagen, wer von uns am Abgrund oder näher am Abgrund stand, falls man das so ausdrücken konnte. Wer von uns würde am Ende am Pranger stehen? Bitte, lass es mich sein, nicht uns beide, dachte ich, während Tom aus dem Bett stieg, seine Sachen vom Stuhl nahm und nackt ins Bad ging. Er ahnte nicht, was auf ihn zukam, und hatte nichts davon verdient. Dass er mich kennengelernt hatte – einfach nur Pech. Mit diesem Gedanken schlief ich ein, wie so oft schon zum leisen Rattern seiner Schreibmaschine. Was blieb mir übrig außer Vergessen? Ich schlief tief und traumlos. Irgendwann am frühen Abend kam er leise ins Schlafzimmer, schlüpfte zu mir ins Bett, und wir liebten uns noch einmal. Er war unglaublich.

[404] 21
    Von Sonntag auf Montag, zurück in der St. Augustine’s Road, verbrachte ich eine weitere schlaflose Nacht. Zum Lesen war ich zu aufgewühlt. Durch die Äste der Kastanie und einen Spalt im Vorhang warf eine Straßenlaterne eine gekrümmte Lichtspur an die Decke, und ich lag auf dem Rücken und starrte sie an. So tief ich in der Tinte steckte, ich sah nicht, wie ich mich anders hätte verhalten können. Hätte ich nicht beim MI5 angefangen, wäre ich Tom nie begegnet. Hätte ich ihm bei unserer ersten Begegnung erzählt, für wen ich arbeitete – und warum sollte ich das einem Wildfremden erzählen? –, hätte er mir die Tür gewiesen. Und je mehr ich ihn ins Herz schloss, ihn schließlich liebte, desto schwerer und riskanter wurde es, ihm die Wahrheit zu sagen, während es gleichzeitig immer notwendiger wurde. Ich saß in der Falle, von Anfang an. Ich malte mir aus, wie es wäre, wenn ich genug Geld und Entschlossenheit besäße, einfach zu verschwinden, ohne ein Wort der Erklärung, irgendwohin, an einen einfachen, unverdorbenen Ort, weit weg von hier, auf die Insel Kumlinge in der Ostsee zum Beispiel. Ich sah mich, ohne Gepäck und aller Pflichten und Bindungen ledig, im wässrigen Sonnenlicht auf einer schmalen Straße wandern, sie führte an einer sandigen Bucht entlang, an Strandgrasnelken, Ginster und [405] einer einsamen Kiefer vorbei und hinauf zu einer schlichten weißen Kapelle auf einem Felsvorsprung. Auf dem winzigen Friedhof daneben stand ein frischer Grabstein, davor ein Marmeladenglas mit Glockenblumen, von der Haushälterin dort hingestellt. Ich würde im Gras neben der aufgeschütteten Erde sitzen und an Tony denken, mich daran erinnern, dass wir uns einen ganzen Sommer lang geliebt hatten, und ihm den Verrat an seinem Land verzeihen. Eine vorübergehende Dummheit, zu der ihn gute Absichten verleitet hatten und die niemandem wirklich geschadet hatte. Ich konnte ihm verzeihen, denn auf Kumlinge, wo Luft und Licht so rein waren, ließ sich alles lösen. War mein Leben jemals besser und einfacher gewesen als an jenen Wochenenden in einem Försterhäuschen bei Bury St. Edmunds, als ein älterer Mann mich vergöttert, bekocht und unterwiesen hatte?
    In diesem Augenblick, morgens um halb fünf, wurden überall im Land Bündel von Zeitungen mit Toms Foto aus Zügen und Lieferwagen auf Bahn- und Bürgersteige geworfen. In jedem Exemplar stand sein Dementi. Damit war er den Dienstagszeitungen zum Fraß vorgeworfen. Ich machte Licht, zog den Morgenmantel an und setzte mich in meinen Sessel. T. H. Haley, Lakai des Überwachungsstaats, um seinen Ruf gebracht, noch ehe er sich einen erwerben konnte, und ich war es, nein, wir waren es, Serena Frome und ihre Auftraggeber, die ihn zu Fall gebracht hatten. Wer sollte einen Text, der die Zensur in Rumänien anprangerte, noch ernst nehmen, wenn sein Autor aus dem Sonderbudget bezahlt wurde? Dieser Honig-Schützling war nun wertlos. Es gab neun weitere Schriftsteller, womöglich bedeutendere, [406] nützlichere, die nicht unter Verdacht standen. Ich hörte schon die Männer in der fünften Etage: Das Projekt wird überleben. Was Ian Hamilton wohl dazu sagen würde? Die fiebrige Schlaflosigkeit ließ Wahnvorstellungen auf meiner Netzhaut lebendig werden. Ich sah ihn im Dunkeln, wie er sich mit einem gespenstischen Grinsen und Schulterzucken abwandte. Tja, dann werden wir uns jemand anderen suchen müssen. Schade. Der Junge hatte Talent. Vielleicht übertrieb ich. Stephen Spender

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