Honig
auf, zählte bis dreißig und rief noch einmal an. Von der U-Bahn-Station Green Park probierte ich es wieder und dann noch mal von Camden aus. Zu Hause setzte ich mich im Mantel aufs Bett und las ein weiteres Mal Tonys Brief. Wäre ich wegen Tom nicht so unruhig gewesen, hätte ich daraus vielleicht ein wenig Trost geschöpft, zumindest ansatzweise. Die Linderung eines alten Kummers. Ich ließ einige Minuten verstreichen, bis es mir wieder an der Zeit schien, zur Telefonzelle in der Camden Road zu gehen. Das tat ich an diesem Abend viermal. Zuletzt um Viertel vor zwölf, als ich die Vermittlung nachzuprüfen bat, ob mit der Leitung etwas nicht stimmte. Zurück in der St. Augustine’s Road und schon im Nachthemd, war ich kurz davor, mich wieder anzuziehen und es ein allerletztes Mal zu versuchen. Stattdessen lag ich im Dunkeln und dachte mir alle möglichen harmlosen Erklärungen aus, um mich von denen abzulenken, die ich mir lieber nicht vorstellen wollte. Ich überlegte mir, auf der Stelle nach Brighton zu fahren. Gab es nicht so etwas wie einen Milchzug? Existierten die wirklich? Aber fuhren die in den frühen Morgenstunden nicht eher nach London herein als aus der Stadt hinaus? Dann versuchte ich meine Gedanken von den schlimmsten Möglichkeiten fernzuhalten, indem ich mir eine Poisson-Verteilung zusammenphantasierte: Mit jedem Mal, das er nicht ans Telefon ging, wurde es weniger wahrscheinlich, dass er beim nächsten Mal ranging. Aber das war Unsinn, weil es den menschlichen Faktor außer Acht ließ, irgendwann musste Tom ja nach Hause kommen – und dann übermannte mich die Müdigkeit von der [425] Nacht zuvor, und ich kam erst wieder zu mir, als um viertel vor sieben der Wecker klingelte.
Am Morgen war ich schon in der U-Bahn-Station Camden, als ich merkte, dass ich meinen Schlüssel zu Toms Wohnung zu Hause vergessen hatte. Also versuchte ich noch einmal, ihn von der Telefonzelle aus zu erreichen, ließ es über eine Minute lang klingeln für den Fall, dass er noch schlief, und ging dann niedergeschlagen zur St. Augustine’s Road zurück. Immerhin hatte ich kein Gepäck. Aber was hatte es für einen Sinn, nach Brighton zu fahren, wenn er gar nicht da war? Trotzdem, mir blieb nichts anderes übrig. Ich musste mich mit eigenen Augen davon überzeugen. Wenn er verschwunden war, konnte die Suche nach ihm nur in seiner Wohnung beginnen. Ich fand den Schlüssel in einer Handtasche und machte mich abermals auf den Weg.
Eine halbe Stunde später überquerte ich den Vorplatz der Victoria Station, gegen den Pendlerstrom, der sich aus den von Süden kommenden Vorstadtzügen ergoss. Als ich einmal zufällig nach rechts blickte, wo sich die Menge gerade teilte, sah ich etwas völlig Absurdes. Kurz erblickte ich mein eigenes Gesicht, dann schloss sich die Menschenmenge wieder, und die Vision verschwand. Ich wandte mich nach rechts, drängte mich durchs Gewühl hindurch und rannte die letzten Meter bis zur offenen Ladenfront von Smith’s. Da war ich, auf dem Zeitungsständer. Im Daily Express. Ich und Tom. Arm in Arm, Kopf an Kopf schritten wir verliebt auf die Kamera zu, unscharf im Hintergrund Wheeler’s Restaurant. Die hässlichen Großbuchstaben über dem Foto brüllten: HALEYS SEXY SPIONIN. Ich nahm mir ein Exemplar, faltete es und stellte mich in die [426] Schlange vor der Kasse. Da ich nicht bei der Betrachtung eines Fotos von mir selbst gesehen werden wollte, schloss ich mich mit der Zeitung in der Bahnhofstoilette ein und blieb so lange dort, dass ich meinen Zug verpasste. Auf den Innenseiten waren noch zwei Fotos. Das eine zeigte mich und Tom, wie wir aus seinem Haus kamen, unserem »Liebesnest«, auf dem anderen küssten wir uns an der Strandpromenade.
So atemlos der Artikel zeterte und Skandal schrie, es stand kaum ein Wort darin, das nicht ein Körnchen Wahrheit enthielt. Ich sei eine »Undercover-Agentin« des MI 5, hieß es, Cambridge-Absolventin, »Spezialistin« für Mathematik, stationiert in London. Mein Auftrag sei gewesen, mit Tom Haley Kontakt aufzunehmen und ihm großzügige Zahlungen zukommen zu lassen. Die Geldkanäle wurden ungenau, aber nicht unzutreffend beschrieben, sowohl die Stiftung ›Freedom International‹ als auch ›Word Unpenned‹ wurden genannt. Toms Erklärung, er habe niemals Kontakt zu Geheimdienstleuten gehabt, war in Fettdruck hervorgehoben. Der Sprecher von Innenminister Roy Jenkins hatte der Zeitung gesagt, die Angelegenheit gebe Anlass zu »ernster Besorgnis«, die
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