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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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zuständigen Beamten würden für heute ins Ministerium zitiert. Von Seiten der Opposition hatte sich Edward Heath persönlich zu Wort gemeldet: Falls die Geschichte stimme, beweise sie, dass die Regierung »nun endgültig vom Weg abgekommen« sei. Und das Wichtigste: Tom hatte einem Reporter gegenüber erklärt, er habe »zu der Sache nichts zu sagen«.
    Das musste gestern gewesen sein. Und danach war er abgetaucht. Wie sonst war sein Schweigen zu erklären? Ich [427] verließ die Toilette, stopfte die Zeitung in den Müll und erwischte gerade noch den nächsten Zug. Nach Brighton war ich in den letzten Monaten immer freitagabends gefahren, bei Dunkelheit. Seit ich damals in meinen schicksten Kleidern im Zug gesessen hatte, um Tom in seiner Universität zum ersten Mal zu treffen, hatte ich Sussex nicht mehr bei Tageslicht durchquert. Jetzt sah ich die liebliche Landschaft, all die Hecken und mit dem Frühling erwachenden, noch kahlen Bäume, und wieder stieg ein unbestimmtes Gefühl von Frustration und Sehnsucht in mir auf bei dem Gedanken, dass ich das falsche Leben führte. Ich hatte es mir nicht ausgesucht. Am Ende war alles Zufall gewesen. Hätte ich Jeremy nicht kennengelernt, und dadurch auch nicht Tony, würde ich jetzt nicht bis zum Hals in Schwierigkeiten stecken und mit Volldampf auf eine Katastrophe zusteuern, deren Ausmaß ich mir nicht auszumalen wagte. Mein einziger Trost war Tonys Abschiedsbrief. Bei aller Traurigkeit, die Affäre mit ihm war nun abgehakt, und ich hatte es endlich, mein Unterpfand. Diese Sommerwochen waren kein Hirngespinst von mir, wir hatten sie wirklich gemeinsam erlebt. Ihm hatten sie ebenso viel bedeutet wie mir. Noch mehr sogar, so kurz vor seinem Tod. Ich hatte jetzt den Beweis für das, was zwischen uns war, ich hatte ihm gutgetan.
    Ich hatte nie die Absicht gehabt, Nutting und Tapp zu gehorchen und mit Tom zu brechen. Das Privileg, die Sache zu beenden, lag allein bei Tom. Mit den Schlagzeilen von heute war meine Zeit beim Geheimdienst abgelaufen. Ich brauchte nicht einmal ungehorsam zu sein. Die Schlagzeilen ließen auch Tom keine andere Wahl, als sich von mir zu [428] trennen. Ich hoffte beinahe, ihn nicht in der Wohnung anzutreffen, damit mir die letzte Konfrontation erspart bliebe. Aber dann würde ich erst recht Höllenqualen leiden. Und so umkreisten meine Gedanken unablässig und betäubend mein Problem und mein kleines bisschen Trost, bis der Zug in der Stahlgitterhöhle des Bahnhofs von Brighton mit einem Ruck zum Stehen kam.
    Während ich hinter dem Bahnhof den Hügel hinaufstieg, kam es mir so vor, als hätten die Schreie und Klagen der Silbermöwen an diesem Tag einen merklich abfallenden Klang, eine ausgeprägtere Schlusskadenz als sonst, ähnlich den vorhersehbaren letzten Noten eines Kirchenlieds. Die Luft roch nach Salz und Auspuffgasen und Frittierfett, ein Geruch, der mich wehmütig an unsere unbeschwerten Wochenenden zurückdenken ließ. Unwahrscheinlich, dass ich jemals hierher zurückkommen würde. Als ich in die Clifton Street einbog, ging ich langsamer in der Erwartung, Journalisten vor Toms Haus zu sehen. Aber die Bürgersteige waren leer. Ich schloss auf und ging die Treppe zur Mansarde hoch. In der zweiten Etage wehten mir Popmusik und der Duft eines herzhaften Frühstücks entgegen. Oben angekommen, zögerte ich kurz vor seiner Tür und klopfte dann laut und arglos, um die Dämonen zu vertreiben; ich wartete, zückte ungeschickt den Schlüssel, drehte ihn zuerst falsch herum, fluchte leise und stieß dann die Tür weit auf.
    Als Erstes sah ich seine Schuhe, seine abgewetzten braunen Straßenschuhe, die Spitzen leicht einwärts gestellt, die Schnürsenkel offen, an einem Absatz klebte seitlich ein kleines Blatt. Sie standen unter dem Küchentisch. [429] Ansonsten war alles ungewöhnlich aufgeräumt. Töpfe und Geschirr im Schrank, die Bücher ordentlich gestapelt. Ich ging zum Bad, das vertraute Knarren der Dielen klang wie ein altes Lied aus fernen Zeiten. In meinem kleinen Erinnerungsvorrat an Selbstmordszenen aus Filmen gab es auch eine Leiche mit einem blutigen Handtuch um den Hals, rücksichtsvollerweise in der Badewanne verendet. Zum Glück stand die Tür offen, und ich brauchte nicht hineinzugehen, um zu sehen, dass er nicht dort war. Blieb noch das Schlafzimmer.
    Die Tür war zu. Wieder klopfte ich töricht an und wartete, weil ich eine Stimme zu hören glaubte. Nach einer Weile hörte ich sie erneut. Sie kam von der Straße oder aus einem

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