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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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musste, um Dich von mir wegzustoßen. Es war das Niederträchtigste, was ich je in meinem Leben getan habe: einfach wegzufahren und Dich auf diesem Parkplatz stehen zu lassen. Aber wenn ich Dir die Wahrheit gesagt hätte, hätte ich Dir niemals ausreden können, mir nach Kumlinge zu folgen. Du bist ein temperamentvolles Mädchen. Du hättest Dich nicht abwimmeln lassen. Ich hätte es nicht ertragen, Dich als Zeugin meines Verfalls bei mir zu haben. Es hätte Dich in einen solchen Abgrund von Leid mit hineingezogen. Diese Krankheit kennt kein Erbarmen. Du bist zu jung dafür. Ich bin kein edler und selbstloser Märtyrer. Ich bin mir nur todsicher, dass ich das allein besser schaffe.
    Ich schreibe Dir aus einem Haus in London, wo ich seit ein paar Tagen wohne und alte Freunde sehe. Es ist Mitternacht. Morgen breche ich auf. Ich möchte mich nicht traurig von Dir verabschieden, sondern dankbar [416] für die Freude, die Du in mein Leben gebracht hast, als ich schon wusste, dass es kein Zurück mehr gibt. Es war schwach und egoistisch von mir, mich mit Dir einzulassen – geradezu rücksichtslos. Ich hoffe, Du kannst mir verzeihen. Ich bilde mir ein, dass Du auch ein wenig Glück dabei gefunden hast, und vielleicht sogar einen Beruf. Für Dein Leben wünsche ich Dir nur das Beste. Bitte bewahre in Deinen Erinnerungen einen kleinen Platz für diese Sommerwochen, diese herrlichen Picknicks im Wald, als Du einem sterbenden Mann so viel Freundlichkeit und Liebe geschenkt hast.
    Danke, danke, mein Liebling.
    Tony
    Ich blieb dort im Gang vor dem Fenster stehen, als schaute ich hinaus, und weinte ein Weilchen vor mich hin. Zum Glück kam niemand vorbei. Dann wusch ich mir auf der Damentoilette das Gesicht, ging hinunter und versuchte mich mit Arbeit abzulenken. Unser Teil der Irland-Sektion befand sich in einem Zustand gedämpften Aufruhrs. Kaum war ich da, gab Chas Mount mir drei sich überschneidende Memos, die er am Vormittag geschrieben hatte und die ich abgleichen, zu einem einzigen zusammenfassen und sauber abtippen sollte. Es ging darum, dass Helium verschwunden war. Einem Gerücht zufolge war er aufgeflogen und erschossen worden, aber wie wir seit gestern am späten Abend wussten, stimmte das nicht. Einer unserer Männer in Belfast hatte berichtet, Helium sei zu einem vereinbarten Treffen gekommen, aber nur wenige Minuten geblieben, gerade lange genug, um seinem Führungsbeamten [417] mitzuteilen, er mache nicht mehr mit, er haue ab, er habe die Nase voll, und zwar von beiden Seiten. Bevor unser Mann Zuckerbrot und Peitsche hervorholen konnte, war Helium schon wieder weg. Chas glaubte den Grund dafür zu kennen. In seinen Memos äußerte er heftige Kritik an der fünften Etage.
    So mancher V-Mann, den man nicht mehr als nützlich erachtete, wurde kaltblütig im Stich gelassen. Statt wie versprochen für ihn zu sorgen, einen sicheren Ort für ihn und seine Familie zu finden, ihm eine neue Identität zu geben und genug Geld, war es den Geheimdiensten zuweilen ganz recht, wenn der Betreffende vom Feind getötet wurde. Oder es zumindest so aussah. Das war zuverlässiger, sauberer, billiger und vor allem sicherer. So jedenfalls lauteten die Gerüchte, die durch einen Fall wie den von Kenneth Lennon noch zusätzlichen Auftrieb bekamen. Der V-Mann hatte sich an die Bürgerrechtler vom National Council for Civil Liberties gewandt. Er stand zwischen den Fronten, zwischen seinen Auftraggebern von der RUC Special Branch und der Provisorischen IRA , die er infiltriert hatte. Er habe erfahren, sagte er, dass die Special Branch ihn fallengelassen und der Gegenseite einen Tipp gegeben habe, und die seien ihm jetzt in England auf den Fersen. Wenn die IRA ihn nicht umlege, werde die Special Branch es selber tun. Er sagte den Leuten vom NCCL , er habe nicht mehr lange zu leben. Zwei Tage darauf wurde er in einem Straßengraben in Surrey tot aufgefunden, mit drei Kugeln im Kopf.
    »Es bricht mir das Herz«, sagte Chas, als ich ihm den Entwurf zum Gegenlesen brachte. »Diese Burschen setzen ihr Leben aufs Spiel, wir schicken sie in die Wüste, die [418] Öffentlichkeit erfährt davon. Und dann wundern wir uns, warum wir keine neuen Leute mehr finden.«
    Mittags ging ich zu einer Telefonzelle in der Park Lane und rief Tom an. Ich wollte ihm sagen, dass ich am nächsten Tag zu ihm kommen würde. Er nahm nicht ab, doch zu dem Zeitpunkt machte ich mir noch keine großen Sorgen. Wir hatten uns für abends um sieben zum Telefonieren verabredet,

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