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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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liebevoll (und erfolglos), Mut zugesprochen, selbst wenn ich inzwischen weiß, dass Du auch berufliche Gründe dafür hattest. Fast den ganzen Dezember habe ich auf dieses leere Blatt gestarrt. Ich war dabei, mich zu verlieben, aber mir fiel keine einzige brauchbare Idee ein. Und dann geschah etwas Unglaubliches. Jemand kam auf mich zu.
    Es geschah nach Weihnachten in Bristol, nachdem ich meine Schwester zu ihrem Wohnheim zurückgebracht hatte. All die aufwühlenden Szenen mit Laura hatten mich ausgelaugt, und mir graute vor der langweiligen Rückfahrt nach Sevenoaks. Vermutlich war ich ein wenig abgestumpfter als sonst. Als mich ein Fremder ansprach – gerade wollte ich ins Auto steigen –, wimmelte ich ihn jedenfalls nicht gleich ab, hielt ihn nicht automatisch für einen Bettler oder Ganoven. Er kannte meinen Namen und sagte, er habe mir etwas Wichtiges über Dich mitzuteilen. Da er mir harmlos vorkam und ich neugierig war, ließ ich mich von ihm zu einem Kaffee einladen. Inzwischen wirst Du erraten haben, dass es Max Greatorex war. Er musste mir von Kent, [433] vielleicht schon von Brighton gefolgt sein, ich habe ihn nicht gefragt. Ich bekenne, dass ich Dich über diese paar Tage belogen habe. Ich bin nicht in Bristol geblieben, um Laura zu helfen, sondern habe an diesem Nachmittag zwei Stunden lang Deinem Kollegen zugehört und anschließend zwei Nächte in einem Hotel verbracht.
    Wir saßen also in einem düsteren, übelriechenden Imbiss, einem Relikt aus den Fünzigern, das wie eine öffentliche Toilette gefliest war, und tranken den schlechtesten Kaffee, der mir je untergekommen ist. Bestimmt hat Greatorex mir nur einen Bruchteil der Geschichte erzählt. Als Erstes sagte er mir, für wen Ihr beide, Du und er, arbeitet. Als ich Beweise verlangte, zeigte er mir verschiedene interne Dokumente, einige, in denen Dein Name erwähnt wurde, andere, die von Dir selbst stammten, handschriftliche Notizen auf amtlichem Papier, auch zwei Fotos waren dabei. Er sagte, er habe diese Unterlagen unter großen Risiken für sich selbst mitgehen lassen. Dann erklärte er mir, was es mit der Operation Honig auf sich hat, ohne jedoch die Namen anderer Schriftsteller zu nennen. Die Idee, einen Romanautor mit an Bord zu nehmen, sei erst relativ spät aufgekommen, aus einer Laune heraus. Er sagte, er liebe die Literatur, er kenne und schätze meine Erzählungen und Artikel schon seit langem, und seine grundsätzlichen Vorbehalte gegenüber dem Projekt hätten sich noch verstärkt, als er gehört habe, dass mein Name auf der Liste stehe. Er wolle sich gar nicht vorstellen, was passieren würde, wenn meine finanzielle Unterstützung durch den Geheimdienst jemals ans Licht käme, ich würde diese Schande nie mehr loswerden – das mache ihm Sorgen. Zu dem Zeitpunkt konnte ich das noch [434] nicht wissen, aber was seine Motivation betraf, nahm er es mit der Wahrheit nicht so genau.
    Dann sprach er von Dir. Weil Du ebenso schön wie klug seist – er sagte: »gerissen« –, habe man Dich für genau die Richtige gehalten, um nach Brighton zu fahren und mich anzuwerben. Einen saloppen Ausdruck wie »Honigfalle« hätte er nie benutzt, aber genau das hörte ich heraus. Ich geriet in Rage, und in meiner Wut auf den Überbringer der schlechten Nachricht hätte ich ihm beinahe eins in die Fresse gehauen. Aber eines muss ich ihm lassen – er erweckte keineswegs den Anschein, als genieße er es, mir das alles zu erzählen. Eher wirkte er bekümmert. Er ließ mich freundlich wissen, dass er viel lieber seinen kurzen Weihnachtsurlaub genießen würde, als mit mir über diese schmutzige Geschichte zu reden. Mit diesem Verstoß gegen die Sicherheitsvorschriften setze er seine Zukunft aufs Spiel, seine Arbeit, sogar seine Freiheit. Aber Transparenz, Literatur und Anstand lägen ihm am Herzen. Sagte er.
    Er hielt mir einen Vortrag über Deine Legende, über die Stiftung, die genauen Beträge und alles andere – nicht zuletzt, vermute ich, um seine Darstellung zu untermauern. Inzwischen hatte ich keine Zweifel mehr. Ich war so durcheinander, so außer mir, dass ich kurz an die Luft musste. Minutenlang ging ich die Straße auf und ab. Ich empfand mehr als Wut. Es war, als hätte ich einen neuen, dunklen Raum betreten: Ich empfand Hass – Hass auf Dich, auf mich, auf Greatorex, auf die Bombardierung Bristols und die grauenhaften billigen Kästen, die man nach dem Krieg auf die Trümmergrundstücke geklotzt hat. Ob es wohl einen einzigen Tag gegeben

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