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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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Radio irgendwo unten im Haus. Ich hörte auch meinen Puls pochen. Ich drückte die Klinke und schob die Tür auf, blieb aber auf der Schwelle stehen, ich hatte Angst, hineinzugehen. Ich konnte das Bett sehen, das ganze Bett, und es war gemacht, die indische Tagesdecke darübergebreitet und glattgezogen. Normalerweise lag sie zusammengeknäult auf dem Fußboden. Das Zimmer war zu klein, als dass sich jemand dort verstecken konnte.
    Mir war flau im Magen, und ich ging in die Küche zurück, um ein Glas Wasser zu trinken. Erst als ich von der Spüle wegtrat, sah ich, was auf dem Küchentisch lag. Offenbar hatten die Schuhe mich abgelenkt. Ein verschnürtes Päckchen, braunes Packpapier, und darauf ein weißer Umschlag mit meinem Namen in seiner Handschrift. Erst trank ich das Glas Wasser aus, dann setzte ich mich an den Tisch, öffnete den Umschlag und begann meinen zweiten Brief in zwei Tagen zu lesen.

[430] 22
    Liebe Serena,
    vielleicht liest Du das im Zug auf der Rückfahrt nach London, aber ich vermute eher, Du sitzt am Küchentisch. Falls ja, entschuldige bitte, wie es da jetzt aussieht. Als ich anfing, den alten Kram rauszutragen und den Boden zu schrubben, redete ich mir ein, das für Dich zu tun – seit letzter Woche steht Dein Name im Mietvertrag, die Wohnung könnte Dir von Nutzen sein. Aber jetzt, wo ich fertig bin und mir das ansehe, frage ich mich, ob Du es nicht zu steril findest, oder jedenfalls unvertraut, jede Erinnerung an unser gemeinsames Leben weggeräumt, die schönen Zeiten weggewischt. Vermisst Du die Pappkartons mit den leeren Chablis-Flaschen, die Stapel von Zeitungen, die wir zusammen im Bett gelesen haben? Wahrscheinlich habe ich nur für mich selbst Ordnung geschaffen. Ich schließe diese Episode ab, und beim Aufräumen tilgt man die Dinge ja immer auch ein wenig aus dem Gedächtnis. Betrachte es als eine Form von Abkapselung. Außerdem musste ich erst einmal klar Schiff machen, bevor ich Dir diesen Brief schreiben konnte, und vielleicht (darf ich wagen, Dir das zu sagen?) habe ich mit meiner Putzaktion auch Dich ausgelöscht, Dich, wie Du einmal warst.
    Bitte verzeih auch, dass ich nicht ans Telefon gegangen [431] bin. Ich wollte nicht mit Journalisten reden, und auch mit Dir nicht, weil es mir dafür einfach der falsche Moment schien. Inzwischen glaube ich Dich gut genug zu kennen und bin mir sicher, dass Du morgen hier sein wirst. Deine Anziehsachen liegen alle unten im Schrank. Von meinen Empfindungen, als ich sie zusammengefaltet habe, sage ich lieber nichts, aber ich habe mir viel Zeit dabei gelassen, wie jemand, der sich ein altes Fotoalbum ansieht. Ich musste an die vielen Verkleidungen denken, in denen ich Dich gesehen habe. Ganz unten im Schrank fand ich zusammengeknüllt die schwarze Wildlederjacke, die Du an dem Abend anhattest, als Du mir im Wheeler’s das Monty-Hall-Problem erklärt hast. Bevor ich sie faltete, habe ich alle Knöpfe zugemacht und dabei das Gefühl gehabt, etwas ab- oder vielmehr wegzuschließen. Wahrscheinlichkeitsrechnung ist mir immer noch ein Rätsel. Oder unterm Bett, der kurze orangefarbene Plisseerock, den Du bei unserem Rendezvous in der National Portrait Gallery anhattest, und der, jedenfalls für mich, die ganze Sache ins Rollen gebracht hat. Ich habe davor noch nie einen Rock gefaltet. Der hier war nicht einfach.
    Während ich das Wort »gefaltet« tippe, wird mir erst klar, dass Du, traurig oder wütend oder von Schuldgefühlen geplagt, diesen Brief ja jederzeit in den Umschlag zurückstecken könntest, ohne ihn fertigzulesen. Bitte tu’s nicht. Das hier ist keine endlose Anklageschrift, und ich verspreche Dir, es wird gut ausgehen, zumindest in mancher Hinsicht. Bleib bei mir. Ich habe die Heizung angelassen, damit es Dir leichter fällt hierzubleiben. Solltest Du müde werden, das Bett gehört Dir, es ist frisch bezogen, alle [432] Spuren unseres alten Lebens wurden im Waschsalon gegenüber dem Bahnhof beseitigt. Für ein Pfund extra hat mir die freundliche Dame dort die Sachen auch noch gebügelt. Gebügelte Laken, das nicht genug gewürdigte Privileg der Kindheit. Aber sie erinnern mich auch an ein leeres Blatt Papier. Das LEERE BLATT, großgeschrieben und sinnlich. Und vor Weihnachten war dieses Blatt in meinen Gedanken wahrlich groß, als ich überzeugt war, dass ich nie mehr einen Roman schreiben würde. Ich habe Dir von meiner Schreibblockade erzählt, nachdem wir Aus dem Tiefland bei Tom Maschler abgeliefert hatten. Du hast mir,

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