Honig
um über die Presseartikel zu sprechen. Ich konnte es ihm auch dann sagen. Da ich keinen Appetit hatte, aber noch nicht ins Büro zurückwollte, machte ich einen melancholischen kleinen Spaziergang durch den Hyde Park. Obwohl wir schon März hatten, war der Park winterlich, von Osterglocken noch keine Spur. Die kahle Architektur der Bäume ragte starr in den weißen Himmel. Ich dachte daran, wie oft ich früher mit Max hierhergekommen war, wie ich ihn an einem dieser Bäume dazu gebracht hatte, mich zu küssen. Vielleicht hatte Nutting recht, vielleicht brachte ich tatsächlich mehr Ärger als Nutzen. Ich stellte mich in einen Hauseingang, nahm Tonys Brief aus der Tasche und las ihn noch einmal, versuchte darüber nachzudenken, fing aber nur wieder zu weinen an. Dann ging ich ins Büro zurück.
Den ganzen Nachmittag arbeitete ich an einem weiteren Entwurf von Mounts Memo. Er hatte beim Mittagessen beschlossen, seinen Vorstoß etwas abzumildern. Vermutlich war ihm bewusst geworden, dass die fünfte Etage Kritik von unten nicht sonderlich schätzte und nachtragend sein konnte. Im neuen Entwurf standen Wendungen wie »aus einer gewissen Perspektive« und »man könnte argumentieren, dass… wobei uns das System zugegebenermaßen gute [419] Dienste geleistet hat«. In der letzten Fassung war von Helium nicht mehr die Rede – ebenso wenig wie von toten V-Männern. Mount plädierte nur noch allgemein dafür, sie gut zu behandeln und ihnen, wenn ihre Zeit abgelaufen war, eine ordentliche neue Identität zu verschaffen, um so die Rekrutierung neuer V-Leute zu erleichtern. Erst um sechs war ich fertig, fuhr mit dem klapprigen Aufzug nach unten und wünschte den wortkargen Männern an der Tür, die mich seit neuestem endlich nicht mehr finster anblickten, einen guten Abend.
Ich musste Tom erreichen, ich musste Tonys Brief noch einmal lesen. Ich war so aufgewühlt, dass ich keinen klaren Gedanken fassen konnte. Ich trat aus dem Leconfield House und wollte gerade Richtung U-Bahn-Station Green Park gehen, als ich auf der anderen Straßenseite eine Gestalt bemerkte, die mit hochgeschlagenem Mantelkragen und breitkrempigem Hut im Eingang eines Nachtclubs stand. Ich wusste sofort, wer das war. Ich wartete am Bordstein auf eine Lücke im Verkehr und rief dann: »Shirley, wartest du auf mich?«
Sie lief zu mir herüber. »Ich bin schon seit einer halben Stunde hier. Was hast du da drin denn noch gemacht? Nein, nein, sag’s mir lieber nicht.«
Sie küsste mich auf beide Wangen – ganz die Bohemienne, die sie jetzt war. Ihr Hut war aus weichem braunem Filz, ihr Mantel eng um ihre nun schlanke Taille gegürtet. Anmutige Sommersprossen sprenkelten ihr zierliches, langgestrecktes Gesicht mit den Schatten unter den Wangenknochen. Was für eine Verwandlung. Bei ihrem Anblick musste ich an meinen Eifersuchtsanfall denken, und [420] obwohl Tom mich von seiner Unschuld überzeugt hatte, wurde ich sofort wieder misstrauisch.
Sie nahm meinen Arm und zog mit mir los. »Zumindest haben die jetzt sicher auf. Komm. Ich hab dir so viel zu erzählen.«
Wir bogen von der Curzon Street in eine Nebenstraße ab und betraten einen kleinen Pub, dessen gemütliches Interieur aus Samt und Messing sie früher als »affig« abgetan hätte.
Als wir uns gesetzt und zwei halbe Pints vor uns stehen hatten, sagte sie: »Als Erstes möchte ich mich entschuldigen. Neulich im Pillars konnte ich nicht mit dir reden. Ich musste weg. Da waren mir zu viele Leute.«
»Das mit deinem Vater tut mir leid.«
An einem kaum sichtbaren Zucken ihrer Kehle merkte ich, dass sie bei meinen mitfühlenden Worten gerührt schluckte. »Ein schrecklicher Schlag für die ganze Familie. Hat uns richtig umgehauen.«
»Was ist passiert?«
»Er wollte über die Straße, hat aus irgendeinem Grund in die falsche Richtung geschaut und wurde von einem Motorrad überfahren. Direkt vor dem Geschäft. Das einzig Gute war, dass er auf der Stelle tot war, gar nichts mitgekriegt hat, jedenfalls hat man uns das gesagt.«
Ich sprach ihr noch einmal mein Beileid aus, dann erzählte sie von ihrer Mutter, die anfangs in völlige Apathie verfallen sei, von ihrer Familie, die sich bei den Begräbnisvorbereitungen beinahe zerstritten habe, vom Fehlen eines Testaments und den Plänen für das Geschäft. Ihr fußballspielender Bruder habe den Laden an einen Kumpel [421] verkaufen wollen. Aber jetzt gehe der Geschäftsbetrieb unter Shirleys Leitung weiter, und ihre Mutter habe das Bett verlassen und
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