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Honig

Honig

Titel: Honig Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ian McEwan
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hatte, an dem Du mich nicht [435] direkt oder indirekt belogen hattest? Ich bückte mich in den Eingang eines mit Brettern zugenagelten Ladens und versuchte ohne Erfolg, mich zu übergeben – um den Geschmack von Dir loszuwerden.
    Als ich in den Kwik-Snax zurückging und wieder Platz nahm, war ich etwas ruhiger und nahm nun meinen Informanten genauer in den Blick. Er war so alt wie ich, selbstsicher und distinguiert, den geschmeidigen Habitus des höheren Beamten konnte er nicht ganz verleugnen. Mag sein, dass er eine Spur herablassend war, was mich aber nicht kümmerte. Mit seinen Ohren und ihren Knochen- oder Fleischhöckern sah er aus wie ein Außerirdischer. Ein ziemlich dürrer Bursche mit dünnem Hals und einem Hemdkragen, der ihm eine Nummer zu weit war. Ich war überrascht zu hören, dass Du mal rasend in ihn verliebt warst, und zwar so sehr, dass es seiner Verlobten irgendwann reichte und sie ihn verließ. Ich hätte nie gedacht, dass er Dein Typ sein könnte. Ob er mir das alles erzähle, weil er verbittert sei, fragte ich ihn. Er bestritt es, die Ehe wäre sowieso eine Katastrophe geworden, in gewisser Weise sei er Dir sogar dankbar.
    Dann sprachen wir noch einmal über das Honig-Programm. Er sagte, es sei überhaupt nichts Ungewöhnliches, dass Geheimdienste sich um kulturelle Angelegenheiten kümmern und ihnen genehme Intellektuelle fördern. Die Russen tun es, warum also nicht auch wir? Der leise Kalte Krieg. Ich sagte, was ich letzten Samstag zu Dir gesagt habe: Warum den Leuten das Geld nicht offen zukommen lassen, über irgendeine Regierungsstelle? Warum diese Heimlichtuerei? Greatorex seufzte, sah mich mitleidig an [436] und schüttelte den Kopf. Er sagte, ich müsse verstehen, dass jede Institution, jede Organisation ein Eigenleben entwickle und eine Eigenlogik, die sie dazu treibe, mit anderen Organisationen zu rivalisieren, wobei es stets um Besitzstandwahrung und Expansion gehe. Das sei ein ebenso unaufhaltsamer und blinder Prozess wie in der Chemie. Der MI 6 habe die Kontrolle über eine geheime Sektion des Außenministeriums erlangt, und nun wolle der MI 5 ebenfalls sein eigenes Projekt. Und beide wollten sie die Amerikaner beeindrucken, die CIA – die über die Jahre mehr Geld in die europäische Kultur gepumpt habe, als sich irgendjemand vorstellen könne.
    Er begleitete mich zum Auto. Inzwischen regnete es heftig, und unser Abschied war kurz. Bevor er mir die Hand schüttelte, gab er mir seine private Telefonnummer. Er sagte, er bedaure, der Überbringer so schlechter Nachrichten zu sein. Hintergangen zu werden sei eine hässliche Sache, das sollte niemandem passieren. Er hoffe, ich fände da wieder heraus. Als er gegangen war, saß ich im Auto, der Zündschlüssel hing mir aus der schlaffen Hand. Der Regen hatte etwas Sintflutartiges, wie ein Weltuntergang. Nach dem, was ich soeben gehört hatte, konnte ich weder zu meinen Eltern noch in die Clifton Street zurückfahren. Ausgeschlossen, mit Dir ins neue Jahr hineinzufeiern. Mir fiel nichts anderes ein, als dem Regen zuzusehen, wie er die schmutzige Straße sauber wusch. Nach einer Stunde fuhr ich zu einem Postamt und schickte Dir ein Telegramm, dann suchte ich mir ein Hotel, ein anständiges. Ich fand, ich könnte den Rest meines fragwürdigen Geldes ebenso gut für Luxus ausgeben. Voller Selbstmitleid bestellte ich mir [437] eine Flasche Scotch aufs Zimmer. Ein Schluck davon, zu gleichen Teilen mit Wasser gemischt, machte mir bereits klar, dass ich mich nicht betrinken wollte, nicht um fünf Uhr nachmittags. Nüchtern wollte ich aber auch nicht sein. Ich wollte gar nichts, nicht einmal Bewusstlosigkeit.
    Aber es gibt keinen dritten Ort neben Sein und Nichtsein. Also lag ich auf dem seidenweichen Bett, dachte an Dich und spielte im Kopf all die Szenen nochmals ab, die mir am meisten weh tun würden. Unser ernster und ungeschickter erster Fick, unser großartiger zweiter, all die Gedichte, Fische, Eiskübel, Geschichten, Politik, das Wiedersehen an den Freitagabenden, die Verspieltheit, das gemeinsame Baden, das gemeinsame Schlafen, all das Küssen und Streicheln und Züngeln – wie gekonnt Du immer nur das zu sein schienst, was Du zu sein schienst, immer nur Du selbst. Bitter und sarkastisch, wie ich war, wünschte ich Dir eine kometenhafte Karriere. Dann wünschte ich noch mehr. Ich muss Dir das sagen: Hätte Dein reizender blasser Hals in dieser Stunde auf meinem Schoß gelegen und wäre zufällig ein Messer zur Hand gewesen, hätte

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