Honig
ich die Tat ohne nachzudenken begangen. »Die Sache will’s, die Sache will’s, mein Herz.« Im Gegensatz zu mir wollte Othello kein Blut vergießen. Er war ein Schwächling.
Lauf jetzt nicht weg, Serena. Lies weiter. Dieser Othello-Moment geht vorüber. O ja, ich habe Dich gehasst und mich dazu, diesen aufgeblasenen Trottel, der sich einbildete, so ein Geldregen stehe ihm zu, genau wie die schöne Frau, die an seinem Arm über die Strandpromenade von Brighton spazierte. Genau wie der Austen-Preis, den ich ohne Überraschung als mir zustehend entgegennahm.
[438] Ja, da lag ich auf meinem riesengroßen Himmelbett, auf einer mit mittelalterlichen Jagdmotiven bestickten Seidendecke, und jagte allen Schmerzen und Kränkungen nach, die meine Erinnerung aus dem Dickicht aufscheuchen konnte. Die ausgedehnten Mahlzeiten bei Wheeler’s, das Klingen der Gläser, Literatur, Kindheit, Wahrscheinlichkeitsrechnung – das alles zu einem einzigen fleischigen Kadaver verschmolzen, der sich wie ein Spießbraten langsam überm Feuer drehte. Ich dachte an die Zeit vor Weihnachten. Ließen wir in unsere Gespräche nicht schon erste zaghafte Hinweise auf eine gemeinsame Zukunft einfließen? Aber was für eine Zukunft denn, wenn Du mir nicht erzählst, wer Du bist? Was hast Du gedacht, wohin das führen soll? Bestimmt hattest Du nicht vor, dieses Geheimnis bis ans Ende Deines Lebens für Dich zu behalten. Der Scotch, den ich um acht an diesem Abend trank, schmeckte besser als der Scotch um fünf. Einen dritten trank ich ohne Wasser, und danach rief ich die Rezeption an und bestellte eine Flasche Bordeaux und ein Schinkensandwich. In den vierzig Minuten, die der Zimmerservice brauchte, hielt ich mich weiter an den Scotch. Aber ich betrank mich nicht vollends, weder zertrümmerte ich das Zimmer, noch brüllte ich wie ein Tier oder stieß wilde Flüche gegen Dich aus. Stattdessen schrieb ich Dir auf Hotelpapier einen schonungslosen Brief, nahm eine Briefmarke, adressierte den Umschlag und steckte ihn in meine Manteltasche. Ich trank ein Glas Wein, bestellte ein zweites Sandwich, bekam keinen klaren Gedanken mehr zu fassen und ging um zehn brav zu Bett.
Als ich ein paar Stunden später in totaler Finsternis [439] aufwachte – das Zimmer hatte dicke Vorhänge –, erlebte ich einen jener Momente unbeschwerter, aber totaler Amnesie. Ich spürte ein behagliches Bett um mich herum, aber wer und wo ich war, lag jenseits meiner Vorstellungskraft. Es dauerte nur wenige Sekunden, dieses Intermezzo reinen Seins, das geistige Äquivalent des leeren Blatts. Unausweichlich sickerte meine Geschichte wieder ein, zunächst die unmittelbaren Details – das Zimmer, das Hotel, die Stadt, Greatorex, Du; dann die allgemeineren Gegebenheiten meines Lebens – mein Name, meine Situation. Und als ich mich dann aufrichtete und nach dem Schalter der Nachttischlampe tastete, sah ich die ganze Honig-Geschichte plötzlich in anderem Licht. Die kurze, reinigende Amnesie hatte mich zur Vernunft gebracht. Das Ganze war nicht, oder jedenfalls nicht nur, elender Lug und Trug und eine persönliche Katastrophe. Ich hatte mich zu sehr darauf konzentriert, gekränkt zu sein, und daher nicht erkannt, was es war – eine Chance, ein Geschenk. Ich war ein Romanschriftsteller ohne Roman, und jetzt hatte mir der Zufall einen schmackhaften Knochen hingeworfen, das Skelett einer brauchbaren Geschichte. Eine Spionin in meinem Bett, ihr Kopf auf meinem Kopfkissen, ihre Lippen an meinem Ohr. Sie verheimlichte ihre wahren Absichten und, ganz entscheidend, sie wusste nicht, dass ich Bescheid wusste. Und ich würde mir nichts anmerken lassen. Ich würde Dich nicht zur Rede stellen, Dir keine Vorwürfe machen, es würde keinen Streit geben, keine Trennung, noch nicht. Stattdessen Schweigen, Zurückhaltung, geduldiges Beobachten und Schreiben. Die Ereignisse würden über den Handlungsverlauf entscheiden. Die Figuren waren alle [440] schon fix und fertig da. Ich würde nichts erfinden, nur aufzeichnen. Dich bei der Arbeit beobachten. Auch ich konnte ein Spion sein.
Ich saß aufrecht im Bett und starrte mit offenem Mund vor mich hin wie einer, der den Geist seines Vaters durch die Wand kommen sieht. Ich hatte den Roman gesehen, den ich schreiben würde. Ich hatte auch die Risiken gesehen. Im vollen Bewusstsein, woher das Geld kam, würde ich es weiter entgegennehmen. Greatorex wusste, dass ich Bescheid wusste. Das machte mich verwundbar und gab ihm Macht über mich. Wurde dieser Roman
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